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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Autoren: Wilhelm Genazino
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nur aufpassen, dass mich meine Freundin nicht dabei erwischte, wenn ich auf die in meinem Handinneren verborgenen Zettel herabschaute. Die Liebesgeschichte fand ihr Ende, weil mir die Herstellung von Spickzetteln zu langweilig und das Spicken selbst zu anstrengend wurde. Zum ersten Mal hatte ich den Wunsch, es müsste den Menschen möglich sein, die Momente der Langeweile in ihrem Leben zu klären und die Gründe der Langeweile ausfindig zu machen.
    Denn es ist zwecklos, Langeweile zu leugnen oder gar aufheben zu wollen. Langeweile ist im Kern nicht »behandelbar«, man kann sie nur umkreisen und dabei erstaunliche Entdeckungen machen beziehungsweise zu Beschäftigungen vorstoßen, die uns ohne Langeweile nicht zugänglich gewesen wären. In jeder Langeweile wiederholt sich etwas, was für eine Wiederholung nicht vorgesehen war. In jeder Langeweile steckt die Entdeckung, dass wir auf Gebieten individuell werden, auf denen wir nicht hatten individuell werden wollen. In diesen toten Intervallen werden wir von unserer Lebenstüchtigkeit getrennt, wir geraten in die Zonen der Verwerfung und des Nihilismus. Unerwünschte, weil unerfreuliche Aspekte unseres Ichs treten hervor und erinnern uns daran, dass wir mit diesem unseren Ich schon viel zuviel Zeit vertrödelt und Sinn verschwendet haben. Aber die Verschwendung ist nur die eine Seite; die andere Seite ist, dass plötzlich, in der Langeweile, sich das Ich auch wieder Zeit zurückerobert. Deswegen möchte ich behaupten: Langeweile ist ungeplant zur Verfügung stehende Zeit. Die Langeweile ist ihr eigenes Narkotikum; sie taucht auf, sie schmerzt uns mit unerwünschtem Stillstand, aber nach einiger Zeit vertreibt sie sich selber. Jeder Schmerz zieht nach einiger Zeit weiter; in diesem Weiterziehen machen wir die Entdeckung, dass wir tröstbar sind – durch Stillstand.
    Eine solche Kette von Verwandlungen in stillstehender Zeit habe ich erlebt, als ich mit dem Zug von Amsterdam wieder nach Hause fuhr. Ich ging in den Speisewagen, in dem eine muntere Reisegesellschaft tagte. Man erzählte sich Witze und machte sich über Kollegen lustig, die jetzt in anderen Firmen arbeiteten oder schon tot waren. Die Stimmung war ganz ausgezeichnet! Aber plötzlich schlugen während der Fahrt einige Gegenstände von unten gegen den Boden des Speisewagens. Eine Panik ging durch den Zug, der Lokführer bremste und brachte den Zug nach kurzer Zeit vollständig zum Stehen. Die Unterhaltung der Reisegesellschaft verebbte. Es wurde still. Man schaute sich ratlos in die Gesichter. War ein Unglück eingetreten oder würde gleich eines geschehen? Ich sah hinaus auf die grau gewordenen Schneereste auf den Feldern.
    Dann meldete sich eine männliche Stimme im Lautsprecher: Meine Damen und Herren, sobald wir wissen, warum wir außerplanmäßig halten, sagen wir Ihnen sofort Bescheid. Ende der Durchsage. Es war offenbar nichts Schlimmes geschehen. Dann wieder Stille. Mich traf die Langeweile weniger hart als die Reisegesellschaft. Ich bin seit langer Zeit gewohnt, das Faszinosum der Langeweile in ihr Gegenteil umzudrehen. Die Reisegesellschaft war in dieser Hinsicht nicht privilegiert. Die Leute gehörten dem Typus Mensch an, der auf eine Gruppe angewiesen ist, um die Zeit nicht zu spüren. Solchen Menschen genügt ein Halt auf der Strecke: und der Ernstfall der Langeweile ist da. Sie erhoben sich von ihren Plätzen und gingen im Speisewagen auf und ab. Ein Mann rüttelte an den Plastikverschalungen der Theke; als sie quietschten, sah er darin ein Zeichen für den Niedergang der Bahn. Unheimlich ist das Vordringen der Langeweile in die Körper. Die Männer kratzten sich, rieben sich die Augen und putzten ihre Brillen. Die Frauen schauten auf ihre Fingernägel, sie überprüften den Sitz ihrer Blusen und Jacken und schminkten sich neu. Sie hatten sich so sehr auf die gemütliche Rückfahrt gefreut – und jetzt das! Ich hätte die Leute auf das Pferd aufmerksam machen können, das draußen im Frühnebel auftauchte, genau neben den Weidenbüschen. Das Pferd war blau, der Nebel weiß, die Weiden rotbraun, der Horizont gelblich. Es war wie ein (lebendes) Bild von August Macke. Aber das war kein Tipp für Menschen, die gerade hinnehmen mussten, dass selbst ihr Ausflug nach Amsterdam so langweilig endete wie ihr Leben zu Hause. In jeder Langeweile steckt ein Abschied, und sei es nur der Abschied von einer gemütlichen Stimmung. Statt Abschied kann man auch Austausch sagen: In der Langeweile tauscht sich ein
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