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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Autoren: Wilhelm Genazino
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wundern, dass von so viel ernst gemeinter Anstrengung so viel Frieden ausgeht, und es ist großartig, dass Seurat diese Widersprüchlichkeit in einem Bild hat konzentrieren können. Und wie es immer ist, löst ein tiefgreifendes Bild im Betrachter ebenso tiefe Assoziationen und Erinnerungen aus. Mir fällt ein, dass mein Vater, als ich die Pubertät endlich überwunden hatte, mit mir besonders unzufrieden war. Ich sehe meinen Vater auf den Bildern von Seurat und ich höre seinen Hauptvorwurf: Steh nicht immer so herum! Ich stand tatsächlich herum wie eine Seurat-Figur, von denen ich damals leider nichts wusste. Sie hätten mir helfen können, die merkwürdigen Beschimpfungen des Vaters besser auszuhalten. Gut, ich sehe heute ein: Herumstehen in der Wohnung sieht nicht toll aus und beunruhigt die anderen Familienmitglieder. Zum eleganten Herumstehen braucht man die Einzelheiten einer halb städtischen Umgebung oder die der Natur. Und selbst dort braucht der Mensch noch verhüllende, tarnende Verhaltensweisen wie das Zuschauen bei einer Rummelplatz-Darbietung oder die Ablenkung durch ein vorübergleitendes Ruderboot oder durch ein Pferd mit Reiter. Wenn all das fehlt, ist der Mensch (sogar in der Wohnung) ein Eckensteher und Herumlungerer.
    Dabei ist Herumstehen nichts weiter als ein Übergang von einer Situation in die nächste. Nur in der Natur sieht Herumstehen und Herumsitzen und Herumliegen »natürlich« aus – das hat Seurat wunderbar genau erkannt. In den von ihm gemalten sitzenden Knaben (mit und ohne Strohhut, mit und ohne Badehose) sehen wir tief aufgewühlte Jugendliche, die ihre stumme Unruhe als Schüchternheit tarnen müssen und nicht einmal von dieser Maskerade etwas ahnen. Man kann auch sagen: Seurat ahmt malend die Ahnungslosigkeit seiner Protagonisten nach; darin steckt der Charme der Bilder. Sehen die drei nackten jungen Frauen auf dem Gemälde »Die Modelle« (1888) nicht aus, als hätten sie noch nie etwas von Erotik gehört? Erkennen wir auf dem Gesicht des »Bauernjungen in Blau« (1881/1882) nicht das tiefe Unbehagen eines bildungslosen Dorfknechts? Können wir, wenn wir das »Porträt einer Frau im verlorenen Profil« (1878/1879) anschauen, nicht sofort die Isolation einer chancenlosen Landfrau nachfühlen? Und spüren wir in der – sagen wir mal so – starken Körperlichkeit vieler Frauen und Männer nicht einen satirischen Überschuss des Malers, der unter der Hand auf Details hinweist, die er nicht eigens thematisieren, aber dennoch ausdrücken wollte?
    Denn natürlich gehen Seurats Bilder nicht darin auf, indem man ihren »Inhalt« nacherzählt. Es gibt auf jedem Bild von Seurat eine interpretationsunabhängige Magie, in der wir getrost die Hauptsache der Bilder vermuten dürfen. Magie heißt immer auch: Es wird etwas von uns ausgedrückt, was wir nicht hinreichend kontrollieren können. Diese Undeutlichkeit lockt andere an, die ihrerseits nicht sagen können, was sie lockt. Diese Bewegtheit der Motive müssen wir uns reziprok eindringlich vorstellen. Auf diese Weise leben wir immerzu in einem Kosmos der Undurchsichtigkeit, man kann auch (pathetisch) sagen: in einem Raum unbeherrschter Natur.
    Auf dem einen oder anderen Bild hat uns Seurat erlaubt, die Magie als Bildmoment zu erkennen. Zu diesen Bildern zähle ich (zum Beispiel) die Kreidezeichnung »Im Concert Européen« (1887/1888) oder das Porträt »Die Frau mit der Puderquaste« (1888/1890), in der wir Seurats Freundin Madeleine Knobloch erkennen dürfen. Auf dem Konzertbild ist nicht die Sängerin auf der Bühne das Hauptthema, sondern die merkwürdigen Frisuren der Frauen im Vordergrund. Ist es erlaubt, in den hoch aufgerichteten Haartürmen der Frauen eine versteckte und dann doch eingestandene Belustigung des Malers zu sehen? Und ist es erlaubt, im Porträt der Freundin die sanfte Komik des – sagen wir – hochgerüsteten Körpercharmes der Damenwelt zu erblicken? Natürlich kann ich die hier angesprochenen Bildmomente nur in Frageform vorbringen; es ist möglich, dass Seurat gleichzeitig ein ernster Mensch war und dass er die belustigende Distanz, die ich ihm hier unterstelle, zurückgewiesen hätte. Aber daran glaube ich nicht; die auf den Bildern mitgemalte Magie ist ein Freiraum, den Seurat gezielt absichtlich genutzt hat.
    Eine erstaunliche Wende nahm Seurats Malerei am Ende seines Lebens. Gewiss ahnte er nicht, dass er im Jahr 1891 an einer Angina sterben würde, erst 32 Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich
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