Ich will doch nur normal sein!
wollte ich es bisher nicht begreifen. Bis heute nicht begreifen. Ich habe damals beim Abschied nicht geweint, ich war wie taub, habe nichts gefühlt außer Angst und ich ahnte nicht, dass es für immer sein sollte und dass ich ab sofort keine Mutti mehr haben werde. Auf einmal war ich ganz allein.
Ich saß hinten auf dem Motorrad meines Vaters und hatte auch Angst auf diesem Ding. Noch nie war ich mit so was mitgefahren. Ich klammerte mich an den kleinen Gurt, der über den Sitz gespannt war und hielt mich krampfhaft daran fest, damit ich nicht runter rutsche. Den Mann wollte ich nicht anfassen, mich nicht an ihm festhalten. Er hat gesagt, ich solle meine Arme um seinen Bauch legen und mich so festhalten an ihm. Er war doch ein völlig fremder Mann für mich und ich wusste nicht, wohin er mit mir fährt. Auf der Fahrt habe ich geweint, Es hat keiner gesehen und keiner gemerkt. Es wäre besser gewesen, ich hätte mich einfach runterfallen lassen von dem Motorrad, aber nicht einmal daran habe ich gedacht. Ich war wie erstarrt und die Tränen liefen.
Dann ging es los – neues Zuhause, neue Mutti, neuer Vati, neue Verwandte, neue Schule. Alles war fremd für mich. Jeder war nett – ich war aber allein und sehnte mich nach Hause, nach meiner Mutti. Sie hat mir so gefehlt und ich hatte Angst, sie vergisst mich einfach. Meine Stiefmutter kaufte mir alles, was ich brauchte. Alles war auf einmal neu und schön – ich habe mich aber nicht gefreut darüber. Die neuen Schürzen habe ich nicht gerne angezogen – ich wollte lieber meine, die mir meine Mutti genäht hatte wieder – aber die waren ja längst zerrissen und verbrannt. Sie gehörten doch mir und es war gemein. Die Schürzen waren erst neu genäht, also noch nicht alt, aber wie haben sie gesagt: „Das Zeug von Leipzig brauchst du jetzt nicht mehr.“
Allen wurde ich vorgeführt, wie ein neuer Hund, den man sich angeschafft hat und ich fühlte mich auch ganz so, wie ein Tier im Zoo, dass jeder mal ansehen darf und das dafür fein gebürstet wird, damit es schön glänzt. Ich fühlte mich fremd und so blieb es. Aber ich musste hier bleiben – wo sollte ich hin? Ich habe mal versucht, mich umzubringen mit Tabletten, weil ich nicht dort sein wollte und weil ich nicht heim konnte. Es hat nicht geklappt, ich habe nur geschlafen und bin dann wieder munter geworden, mir war zwar noch etwas schlecht, aber gestorben bin ich nicht.
Die Zeit verging und ich ging in die Schule und war eben dort zu Hause und nicht mehr in Leipzig. Mein Vater sagte, was ich brauchen werde, bekomme ich dort. Alles blieb zurück. Das erste Weihnachtsfest rückte näher. Ich wollte unbedingt meiner Mutti, meiner richtigen Mutti etwas zu Weihnachten schenken. Sie soll merken, dass ich noch da bin, dass ich sie lieb habe und dass sie mich nicht vergessen soll. Aber wovon sollte ich ihr ein Geschenk kaufen und so hatte ich nichts, worüber sie sich gefreut hätte. Etwas basteln, über so was hat sie sich nie gefreut.
Taschengeld bekam ich keines, also konnte ich nichts kaufen. Wenn ich etwas brauchte, musste ich es sagen und meine Stiefmutter kaufte es oder ging es mit mir kaufen. Allein einkaufen konnte ich nicht, hatte kein Geld und wenn ich doch mal geschickt wurde, dann mit Einkaufszettel und dann musste ich das Restgeld mit Quittung zurückgeben.
Mein Vater war nicht arm. Wir waren es damals. Oft konnte uns Mutti nur Marmeladenbrote schmieren, weil kein Geld für Butter und Wurst da war. Vati hat viel Geld in die Kneipe gebracht und zu Hause musste auch immer Bier und Schnaps da sein, sonst wurde Vati böse und es gab richtigen Ärger.
Schulbücher bekamen wir von der Schule frei und für den Schulhort brauchte Mutti auch nichts bezahlen, ich weiß dass, weil ich es mal mitbekommen habe. Nur wer wenig Geld hat, brauchte nicht zu zahlen für Bücher, Hort oder Kindergarten und auch für Schulessen.
Mein richtiger Vater hatte Geld – genug Geld. Er ging fast jeden Tag in die Kneipe, genau, wie mein Vati. Aber mein Vater spielte immer den King in der Kneipe – zum Schluss, wenn er die Rechnung bezahlt hat, besoffen genug war oder die Kneipe zumachte, dann schmiss er immer das Geld, was er beim Bezahlen zurückbekam in die Kneipe auf den Boden. Es waren meist so zwischen zwanzig und dreißig Mark in Kleingeld und es gab viele, die schon darauf warteten, um sich darauf zu stürzen und so viel, wie möglich zu ergattern. Oft musste ich mit in die Kneipe und neben ihm sitzen, daher wusste
Weitere Kostenlose Bücher