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Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon
Autoren: Sally Perel
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Rand einer frisch ausgehobenen Grube stehen.
    Mir gegenüber wird exekutiert … die Kugeln pfeifen … sie
    treffen oder treffen nicht … ich falle … falle … und wache
    in meinem Bett auf. Ich bin schweißgebadet, starr vor Schreck,
    ich ringe nach Luft, aber ich lebe, bin wohlauf. Es ist jedes
    Mal, als würde mir das Leben von neuem geschenkt.
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    Die Reihe rückte auf. Bald lag nur noch eine winzige Strek-
    ke zwischen den Soldaten und uns. Vor mir stand noch eine
    Handvol Männer. Ich konnte bereits deutlich die Gesichtszüge
    derjenigen erkennen, die darüber entschieden, wer leben durfte
    und wer nicht. Ich hörte ihre bellenden Befehle. Schickte sich
    meine Lebensuhr an, die letzte Stunde zu schlagen?
    In diesem Augenblick hätte ich fliehen, vom Erdboden ver-
    schwinden, mich in etwas anderes, in irgendein Tier verwandeln
    oder unsichtbar werden mögen. Ich wäre so gerne erwacht
    und hätte an der Brust meiner Mutter wieder Atem geschöpft.
    Doch nichts dergleichen geschah. Ich stand wie festgenagelt. Die
    Angst hatte einen unbeschreibbaren Höhepunkt erreicht. Sie
    drang in jede Faser meines Körpers und drohte, ihn in tausend
    Stücke zu sprengen. Unter dieser unerträglichen Anspannung
    verlor ich einige Tropfen Sperma. Ich spürte ein Nachlassen der
    Spannung und eine eigenartige Erleichterung. Meine Unterhose
    wurde feucht, trocknete aber rasch wieder und wurde hart.
    Ich schloß kurz die Augen, wie losgelöst zwischen Himmel
    und Erde schwebend. Als ich sie wieder aufschlug, erblickte
    ich das Koppel eines links von mir stehenden Soldaten, auf
    dem »Gott mit uns« eingraviert war. Was hatten diese Worte
    zu bedeuten?
    War dies derselbe Gott, der uns Juden als die Kinder des
    auserwählten Volkes bezeichnet hatte? Oder hatten sie einen
    anderen Gott, den man mit Menschenopfern besänftigen
    mußte? Der Mann mit dem Koppel schrie mich an: »Hände
    hoch!« Ich war an die Reihe gekommen. Ein paar Sekunden
    lang, vielleicht die letzten meines Lebens, dachte ich an Vater
    und Mutter, an das Gute und Schöne auf Erden, an meinen
    unbändigen Lebenswillen.
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    Ich bebte am ganzen Körper. Ich hob meine zitternden
    Arme, und der stahlhelmbewehrte Wachposten näherte sich
    mir, um mich systematisch zu durchsuchen. Ich sah mich
    schon sterben, blieb aber stocksteif stehen und brach nicht
    in Schluchzen aus.
    Ich wartete. Er hob die Hand, und in dem Augenblick, da
    sie meinen Körper berührte, überflutete mich der Lebenswil e
    wie ein Orkan. Etwas Phantastisches war in mir vorgegangen,
    eine Art Befreiungsengel wachte plötzlich über mich. Die läh-
    mende Angst verflog. Auch meine bleischwere Zunge löste sich.
    Zuversicht und Mut überkamen mich, und ich sagte leichthin
    zu dem Mann, der gleich über mein Schicksal entscheiden
    würde: »Ich habe keine Waffen!« und lächelte ihn breit an.
    Er beugte sich nieder und tastete rasch meine Hose ab.
    Er schielte von unten hoch und fragte mich lauernd und
    drohend: »Bist du Jude?«
    Ohne zu zögern, antwortete ich mit normaler, fester Stimme:
    »Ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher.«
    Mein Leben hing an einem seidenen Faden. Ich befand
    mich in den Händen eines Militärs, der vom Wahnsinn des
    Krieges und der Mordlust vergiftet war. In seinen Augen war
    ein Menschenleben keine Revolverkugel wert. Sein Wille und
    sein Urteil bestimmten mein Schicksal. Würde er mir glauben?
    Doch die Gefahr verschärfte sich, und die Lage wurde
    nahezu aussichtslos: Ein hinter mir stehender junger Pole
    sprang plötzlich vor und sagte, mit dem Finger auf mich
    zeigend, zu dem deutschen Wachposten: »Der … Jude!« Ich
    verneinte verzweifelt, halb tot vor Angst. Da ereignete sich
    das Erstaunliche und Unglaubliche, das ich heute noch nicht
    begreife. Der Nazi-Soldat glaubte mir, ausgerechnet mir! Der
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    verwirrte Denunziant bekam eine schallende Ohrfeige für
    seine Unverschämtheit und den Befehl, »seine Schnauze zu
    halten«. Wörtlich!
    Mein Blick blieb von neuem am Koppel des Soldaten hängen.
    Zum zweiten Mal las ich: »Gott mit uns«. Was war in diesem
    alles entscheidenden Augenblick im Herzen dieses Mannes
    vorgegangen? Hatte ihm ein göttlicher Funke, während er
    vor mir stand, etwa zugeflüstert: »Dieser Junge muß leben!«?
    Wenn es so war, warum dann ausgerechnet ich? Würde ich es
    je erfahren oder begreifen? Bevor die Reihe an mir war, hatten
    schon viele Juden die Kontrolle durchlaufen. Auch sie wollten
    ihre Herkunft verbergen. Da sie des
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