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Ich übe für den Himmel

Ich übe für den Himmel

Titel: Ich übe für den Himmel
Autoren: Patmos
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habe ihn seit mindestens zwei Wochen nicht gesehen und versuche, nicht zu zeigen, wie erschrocken ich bin. Er ist so blass und schrecklich dünn geworden. Seine weiße Haut an den Händen, die er jetzt auf die Hände seiner Eltern gelegt hat, ist fast durchscheinend. Er trägt eine Baseballmütze mit Snoopy drauf. Tommy hat keine Haare, keine Wimpern und keine Augenbrauen mehr.
    Er flüstert etwas und muss sofort husten. Ich kann ihn nicht verstehen. Weißbär und Braunbär schweigen und ich frage: »Darf ich mein Ohr an deinen Mund legen, Tommy? Ich höre heute so schlecht. Der Wind hat da unterwegs was reingestopft.«
    Ich beuge mich zu ihm vor, und er spricht mühsam, Wort für Wort, in mein Ohr: »Ich möchte fliegen.«
    Sein Atem rasselt. »Ich möchte üben, wie ich in den Himmel fliegen kann. Hilfst du mir?«
    Jedes einzelne Wort kostet ihn viel Kraft. Ich muss aufpassen, dass ich nicht anfange zu weinen. »Zeige kranken Kindern Mitgefühl, aber niemals Mitleid«, sagt Papa immer wieder. »Sie mögen es nicht, bemitleidet zu werden.«
    »Ich kann nur ein bisschen fliegen, aber mit Mamamoma und Papapipo klappt es, da bin ich mir sicher«, sage ich.
    »Dürfen wir vier alle zusammen fliegen?«
    Tommy nickt.
    »Ich schicke Braunbär und Weißbär in den Wald zurück und rufe Mamamoma und Papapipo. Okay?«
    Tommy nickt erneut, kaum sichtbar.
    »Ihr beiden habt für heute Feierabend«, sage ich zu Braunbär und Weißbär. »Gebt mir bitte Tommys Blumenstrauß und dann ab mit euch.« Die Bären gehorchen, geben mir artig den Strauß und verbeugen sich winkend. Dann verschwinden sie hinter dem aufgeklappten Deckel vom Koffer mit der Sonne, dem Mond und den Sternen, der am Fußende von Tommys Bett steht. Mamamoma und Papapipo machen sich klein und gehen langsam in die Hocke runter. Ich mache mich auch klein und gebe ihnen die Leinensäckchen.
    »Tommy will fliegen. Er möchte mit uns üben, wie er in den Himmel fliegen kann«, flüstere ich.
    Ich richte mich wieder auf, gehe in die Ecke, wo das Waschbecken ist, fülle ein Glas mit Wasser und stecke die Blumen hinein.
    »Blaue und weiße Blumen, Tommy. Wolken und Himmel wie draußen, wenn man aus dem Fenster sieht.« Ich stelle sie auf sein Nachtschränkchen. In dem Augenblick erscheinen Papapipos und Mamamomas Finger in weißen Handschuhen am Fußende von Tommys Bett. Mamamoma eröffnet das Zauberspiel.
    »Hast du das auch gehört, Papapipo? Hier ist ein Junge, der möchte fliegen lernen.«
    »Hab ich auch gehört. Kann es sein, dass du ein bisschen fliegen kannst?« Papapipo steigt sofort ein.
    »Ein bisschen, Papapipo. Ab und zu falle ich leider runter. Was meinst du, können wir zu zweit ein bisschen besser fliegen?«, fragt Mamamoma
    »Können wir«, versichert Papapipo. »Und Isha-Clown kann auch ein bisschen fliegen. Zusammen sind wir starke Flieger.«
    »Dürfen sie mitkommen zum Üben, Tommy?«, frage ich.
    Er gibt mir mit seinen Augen ein Zeichen und schließt sie kurz. Dann, als er sie öffnet, sage ich:
    »Ihr könnt hochkommen, aber schön vorsichtig. Wir müssen uns nämlich noch als Vögel auf den Flug vorbereiten, Tommy, ihr und ich, damit wir das Fliegen ausprobieren. Macht nicht zu viel Wind, sonst verlieren die Flughilfen ihre Zauberkraft.«
    Papapipo und Mamamoma öffnen einen Leinenbeutel. Behutsam stecken sie Tommy Federn an seine Baseballkappe, in die Verbände an seinen Armen und zum Schluss heften sie eine Feder mit einer Sicherheitsnadel an sein Snoopyhemd, dort wo sein Herz schlägt.
    Im Himmelskoffer finde ich eine Schere und eine Rolle mit Kreppband. Ich schneide kleine Streifen ab.
    »Ihr werdet jetzt operiert«, sage ich zu Mamamoma und Papapipo. »Warum sollen immer nur Kinder in diesem Krankenhaus operiert werden? Jetzt seid ihr endlich dran. Ohne Operation fallt ihr sonst noch die Treppe runter. Hinlegen!«, kommandiere ich.
    Sie tun es prompt und mit viel Gestöhne. Ich sehe, dass Tommy lächelt, es ist ein winziges Lächeln.
    Aus dem Koffer nehme ich einen Doktor-Clown-Kittel, ziehe ihn an und klebe den Clown-Patienten kreuz und quer Federn auf den Körper. Zum Schluss eine auf ihre Stirn.
    »Abflugbereit?«, frage ich. »Operation gut überstanden?«
    Sie stöhnen leise weiter.
    »Also nicht? Dann müsst ihr noch liegen bleiben.«
    »Nein!«, protestieren die Frischoperierten und rappeln sich auf. Ich stecke mir die restlichen Federn in meine Wuselfrisur und frage Tommy, ob er mit uns das Fliegen üben möchte. Plötzlich sagt er
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