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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Autoren: Kelle Groom
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schreiben mich zu ihm führen würde. Und trotzdem bin ich überrascht, dass das auch geschieht.
    Ich hatte beschlossen, aus dem Gedächtnis über seine Geburt zu schreiben, mit dem zu beginnen, was unvergesslich war. Aber als ich schließlich meinen Tagebucheintrag von dem Tag las, sah ich, dass ich ihn zwei Mal im Arm gehalten habe, nicht ein Mal. Er ist um 2 . 13  Uhr geboren, und die Krankenschwester weckte mich um neun Uhr morgens, damit ich ihn halte, und um ein Uhr mittags, damit ich ihm ein Fläschchen gebe. Zwei Mal. In meiner Erinnerung ist es ein einmaliges Halten.
Ich habe leise mit dir gesprochen, aber ich weiß nicht, was ich gesagt habe. Ich glaube, allein dass ich gesprochen habe, war wichtig – du kanntest mich schon.
Selbst damals, unmittelbar danach, wusste ich nicht mehr, was ich gesagt hatte.
    Als die Krankenschwester mich weckte und sagte, ich solle mit ihr kommen, war ich hingefallen. In Ohnmacht gefallen. Ich kann mich jetzt daran erinnern, an den Geruch von Ammoniak-Riechsalz, der kalte Boden an meinem Körper durch das Baumwollhemd. Ich wollte der Krankenschwester folgen und bin ins Dunkle geglitten. Habe mich hingestellt. Wankte, während ich auf mein Baby wartete.
Ich habe die weiße Decke aufgeschlagen, deine Finger und Zehen berührt.
    Zwei Tage lang musste ich Eispackungen auf meine Brüste legen – sie sind so voll.
Einmal hat ein Arzt zu mir gesagt, ich sei wie gemacht für Kinder, der Raum zwischen meinen Hüften sei ein perfektes Haus. Ich war hierfür gemacht. Der Körper ist ein Schiffsrumpf, der Ort, wo Musik herkommt, Sonne und Mond, die Sterne sind Körper, ein bedeckendes Gewand.
    Ich wusste nicht, dass ich mich umentscheiden konnte. Ich wusste nicht, dass ich dich behalten durfte.
    Ich schickte Mark und Julia eine Mail und fragte, ob mein Päckchen zu Weihnachten angekommen sei. Ich hatte die Versandnummer geprüft, das Päckchen hatte bei der Adresse nicht zugestellt werden können. Jemand hat es bei der Post abgeholt. Julia schreibt sofort zurück und hängt ihre ursprüngliche Antwort an. Ich sehe, dass mein Name in der Mailadresse, die sie verwendet hat, falsch geschrieben ist. Ich stelle mir vor, dass Kelly mit »y« glücklicher ist als ich und in ihrem eigenen Haus lebt. Julia schrieb, ihr habe das »Love a Dog«-T-Shirt sehr gefallen und dass Mark den Becher mit Hundesprüchen jeden Tag benutze (jeden Tag) und dass die Hunde ihre Kekse im Nu verzehrt hätten.
    Eine Karte von einem Freund in New York kommt mit der Post. Das Bild auf der Karte ist ein Brief von van Gogh, um eine seiner Zeichnungen in der Mitte herum geschrieben. Eine Skizze zu »Weizenfeld und untergehende Sonne«. Ich weiß nicht, warum es mich überrascht, dass der Brief auf Französisch ist und ich nur vereinzelte Wörter verstehe. Irgendwie hatte ich angenommen, wir sprächen dieselbe Sprache. Mitten in meiner Brust ist eine Stelle, wo das Bild etwas auslöst – es ist so unmittelbar. Die Wörter drum herum wie ein Lied, das ich nicht kenne.
    Julia bindet Tommy eine Kette um – eine Art Blumengirlande, gelbe Blumen. Er nimmt es hin, scheint es kaum zu spüren. Sie küsst ihn auf den Hals, blickt in sein Gesicht, um zu sehen, ob sie ihn zum Lächeln gebracht hat, küsst ihn noch einmal. Sieht ihn an, küsst ihn wieder. Wie sind seine Augen so groß geworden? Weit offen, die ganze Zeit. Er hat so etwas wie einen Gips um den Arm. Vielleicht bekommt er da Injektionen. Sein Arm ist festgestellt mit einer Schiene, dicke weiße Streifen von Mullbinde darüber. Er scheint es hinzunehmen.
    Ich verbringe den größten Teil des Tages an dem Fenster, wo du bist, unter den Augen der Krankenschwestern. Hinter der Glaswand liegen alle Neugeborenen Seite an Seite in Plastikbettchen. Zwei Babys wurden am selben Morgen wie du geboren und drei am Tag danach. Wenn ich nicht genug Kraft habe, noch länger zu stehen, gehe ich zurück zu meinem Bett. Sammle neue Kraft, komme wieder zu dem Fenster. Manchmal ziehen die Schwestern die Jalousien vor mir runter. Es ist ein schlimmes Gefühl, zu wissen, du bist hinter dieser Jalousie, und ich kann dich nicht sehen.
    Die Kamera fährt an den Wänden des Krankenzimmers entlang, an der lauter Karten hängen. Das Bild ist leicht verschwommen, aber ich erkenne eine Ente. Ich weiß nicht, von wem die Karten sind. Ich habe keine Karte geschickt. Ich wusste nicht, dass ich es hätte tun können, wusste bis dieses Jahr nicht einmal, welches Krankenhaus es war. Ich weiß nicht, wie
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