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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Autoren: Kelle Groom
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viele Karten es sind – fünfzig? Fünfundsiebzig? Eine ganze Wand voll. »Herzlichen Glückwunsch Tommy«, steht auf drei Karten, auf jeder Karte ein Wort, sie hängen in einem Bogen von der Decke. Zu meinem Entsetzen fängt jetzt eine Disco-Version von »Somewhere Over the Rainbow« an, wird aber ruhiger und ist schließlich nur eine muntere Version des Songs. Julia hält Tommy in seinem gelben Krankenhausanzug hoch, und er lächelt. Ich sehe zwei Zähne oben, zwei Zähne unten.
    Die Krankenschwestern haben Dr. Treharne erzählt, ich hätte mein Recht, durch das Fenster zu sehen, missbraucht. Als er mich untersuchte, sagte er nichts. Er ging und vergaß, den grauen Vorhang um mein Bett wegzuziehen.
    Eine Blume, wie ein Anstecksträußchen, sehr grün, die Julia aus einem Plastikeimer nimmt. Etwas für einen Ball, eine Hochzeit. Sie streicht ihm damit über das Gesicht. Aber er möchte nur den grünen Lutscher, den der bärtige Mann daneben auspackt. Vielleicht ist das Julias Bruder? Julia sitzt in einem Schaukelstuhl. Ich sehe sein Lächeln, als er den Lutscher bekommt.
    Mark schiebt Tommy in einem Hochstuhl an einen Tisch im Krankenhausflur. Tommy weint bei der Unruhe, aber Mark lacht leise, als wäre es ganz ungewöhnlich, dass Tommy weint, dass er protestiert. Doch dann sitzt er am Tisch, glücklich, und isst. Der Tisch füllt fast den ganzen Flur aus. Manchmal geht eine Krankenschwester vorbei. Dann sehe ich eine Frau, die ich nicht kenne, sie lächelt Tommy zu, beugt sich zu ihm, spricht mit ihm, lacht, lächelt. Es ist Ellen. Die alte Frau, die ich in Falmouth kennengelernt habe, Marks Tante Ellen. Sie strahlt, sitzt in der Hocke, stützt das Kinn in die Hand und blickt von Tommy zu Mark, lächelt.
    Nana Smith blickt in die Kamera, ein ängstlicher Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie sitzt neben Mark. Julia sitzt auf der anderen Seite. Sie sitzen rechts und links von Tommy, der ein großes Lächeln auf dem Gesicht hat. Zuerst tut Julia so, als würde sie ihm etwas aus seinem geschlossenen Mund nehmen, und berührt seine Lippen, dann macht Mark das Gleiche. Und beide Male sieht er sie mit solcher Zärtlichkeit, solcher Liebe an. Sie alle bewegen sich so langsam, als wären sie unter Wasser, Julias Arm, der sich zu ihm ausstreckt, die winzige rote Blume seines Mundes. Sein Kopf ein wenig gesenkt in der scheuen Freude, dass es ein Spiel ist, das er kennt, die Augen dann zu ihr erhoben, lächelnd. Als Mark seine Hand ausstreckt, senkt Tommy den Kopf auf dieselbe Weise, mit derselben stillen Zärtlichkeit.
    In diesem Moment denke ich, ich sollte sie schützen, ihnen die DVD nicht schicken. Aber Menschen schützen zu wollen ist der Ausgang allen Elends – welcher Hochmut, zu entscheiden, was ein anderer Mensch braucht. Und wovor würde ich sie bewahren? Vor seiner Liebe? Die fast dreißig Jahre lang in einer Schublade geschlummert hat. Es war das Einzige, was sie sich von mir gewünscht hatten. »Wir konnten das nicht.« Dass ich die Super- 8 -Filme in etwas umwandle, das sie sehen können. Sie wollen ihn lebendig in der Welt sehen.
    Später wiegt Julia ihn an ihrer Schulter. Sein Gesicht ist auf die Kamera gerichtet, die Augen offen. Eine kleine Angespanntheit ist auf seinem Gesicht, aber als sie ihn wiegt, verändert sich sein Ausdruck. Die Anspannung weicht aus seinen Augen, das Lächeln kommt zurück. Und sie lächelt mit geschlossenem Mund – eine Zufriedenheit liegt auf ihrem Gesicht, während sie ihn wiegt, selbst in dieser schrecklichen Zeit, selbst als er im Sterben liegt, gibt sie ihm ihr ganzes Glück. Sie sieht aus wie eine Frau, die weiß, was sie tut, das Anstecksträußchen steckt jetzt an ihrer Bluse. Der Film macht einen Schnitt und zeigt Mark, wie er Tommy an seiner Brust wiegt. Tommy schlafend, den Kopf an Marks weißem Hemd nach oben gerichtet, den Mund geöffnet. Dieselbe Zufriedenheit steht auch in Marks Gesicht, eine verhaltene Freude, ein kleines Lächeln, aber ich spüre es – wie glücklich er ist, Tommy schlafend in den Armen zu halten.
    In der nächsten Sequenz weiß ich nicht genau, was ich sehe, Tommy hat nicht mehr den gelben Anzug an. Ein quadratisches Brett scheint an seiner Wade befestigt zu sein. Nana Smith hält sich die Faust an den Mund. Julia deckt das Brett mit einer Decke zu. Alle haben die Schultern gebeugt, sind zum Boden hin geneigt.
Ich kann deinen Fuß spüren, wie er tritt – ich sehe, wie er sich unter meiner Haut bewegt.
    Dann liegt Tommy in Marks Armen. Er wird in
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