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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Autoren: Kelle Groom
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Stadt auf einmal als Hauptsorge betrachten? Und was will ich erreichen? Wenn gar keine Kinder krank sind, warum forsche ich dann da? Ich hatte geglaubt, die Umweltbelastungen in der Stadt hätten Tommys Leukämie verursachen können. Ich glaube immer noch, dass die Stadt ihn krank gemacht hat, aber es ist ein Gefühl – ich kann es nicht beweisen. Ich hatte herausfinden wollen, warum er gestorben ist. Aber ich wollte auch herausfinden, ob ich verantwortlich war. Als ich nach Tommys Tod glaubte, andere Kinder in Brockton starben ebenfalls an Leukämie, schien es ein Verbrechen, nichts zu tun. Standen noch andere Leben auf dem Spiel? Wie konnte ich schweigen? Eine Mutter würde herausfinden, was ihren Sohn umgebracht hat. Aber die Daten weisen für die Stadt keine vom Rest des Staates abweichenden Zahlen auf. Die Inspektorin für öffentliche Gesundheit hatte erwähnt, dass es Häufungen von Krebs geben könnte, örtlich begrenzte, diese aber schwierig nachzuweisen seien. Die Stadt kommt mir jetzt wie eine Sackgasse vor. Eigentlich hatte ich immer ihn, meinen Sohn, finden wollen.
    Auf einem Foto von Kindern in einem Wohnviertel von Brockton im Dezember 1940 erkenne ich die Szene. Sie hat die blaue Klarheit von Winter. Kein Wölkchen am Himmel. Hier lebten mein Dad, meine Großmutter, für eine Weile auch mein Onkel – das Getto von Brockton. Das Haus hat lange Schiebefenster, ein Gesims mit Kragsteinen. Das Dach neigt sich wie eine Schieferrutsche. Vor dem genau gleich aussehenden Haus daneben (abgesehen von einer schwarzen Jalousie, wo nebenan eine grüne ist, einem Radio auf der Fensterbank und der Abwesenheit von Kindern und Hunden) steht ein blauer Ford Tudor Sedan, Model A, ein Wrack, die Tür auf der Beifahrerseite geschwärzt, als wäre das Auto in Brand gesteckt worden. Acht kleine Kinder sind zu sehen, ein größerer Junge und vielleicht ein erwachsener Mann, dazu der Hund, der auf der Straße streunt. Kahle Äste sprießen statt Bäumen aus dem Boden. Hier gibt es keine Frauen. Es sieht nicht so aus, als könnte man irgendwo hin. Es gibt nur die grauen Stufen vor dem Haus, die graue Straße oder das Innere des Hauses, das verlassen aussieht, nachtschwarz. Hier ist mein Dad aufgewachsen. Abgesehen von der Zeit in Wellfleet lebte er als Kind in diesem Viertel. Ich weiß nicht, warum diese Vergangenheit so vertraut aussieht. Vielleicht sollte ich Brockton in Ruhe lassen, den Ort hinter mir lassen.
     
    3 .
     
    Das Videogeschäft ist in einer kleinen Einkaufsstraße; ein junges Mädchen sitzt in der Ecke des Ladens. »Haben Sie angerufen?«, fragt sie. Ich habe die Kassetten in einer Plastiktüte dabei. Sie nimmt sie heraus, liest, was mit schwarzem Marker auf jede geschrieben ist. Sie macht einen Stapel aus den nummerierten Kassetten »Erster Geburtstag«, in chronologischer Ordnung. »Das hier sind Super 8 «, sagt sie. Die letzte Kassette ist eng beschriftet – ein anderes Kind wird erwähnt –, und ich lese ihr vor: »Plymouth Beach. Fünf Monate.« Sie legt sie oben auf den Stapel.
    »Möglicherweise sind die Bänder brüchig«, sage ich. Sie macht die Kassette auf, nimmt den dünnen Streifen heraus, hält ihn sich unter die Nase.
    »Ich rieche dran, denn wenn Super 8 schlecht wird, entsteht eine chemische Reaktion. Da drüben ist ein kaputter Film.« Sie deutet mit dem Kopf zu einem anderen Schreibtisch in der anderen Ecke – der Film von einem anderen. »Ihre sind in Ordnung«, sagt sie. Acht Meter Film auf jeder Spule, das sind zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Minuten Film. Ich habe fünf Kassetten. Vielleicht habe ich fünfzehn Minuten vom Leben meines Sohnes. Das will ich ihr nicht sagen, aber ich möchte, dass sie achtsam damit umgeht.
    »Die Kassetten sind sehr kostbar für uns«, sage ich. »Es ist jemand, der gestorben ist.« Sie will wissen, was sie auf den Aufkleber schreiben soll, der auf die DVD kommt.
    »Normalerweise schreiben wir ›Familienerinnerungen‹.« Ich nenne ihr den Namen auf seiner Geburtsurkunde, auf seinem Grab: »Thomas Edward Smith.«
    »Die ersten Jahre?«, fragt sie. Schlägt das als Zusatz vor. Hatte ich nicht gesagt, es ist jemand, der gestorben ist? Vielleicht denkt sie, er ist später gestorben. Dass er erwachsen geworden ist.
    »Nur sein Name«, sage ich. Ich denke an Mark und Julia, dass sie den Umschlag mit der DVD aufmachen und den Aufkleber lesen. »Ist es möglich, dass ich die DVD am Freitag vor Feierabend abhole?« Sonst wird es Montag, und ich muss
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