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Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)

Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)

Titel: Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)
Autoren: Eveline Hall , Hiltud Bontrup , Kirsten Gleinig
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Kinder aus nichts ganz viel geschaffen hatten. Wir besaßen wenig, aber das war mit so viel Liebe gemacht, dass wir es wunderbar fanden. Aus wenig ganz viel machen – das trieb meinen Vater an und diesen Geist habe ich übernommen. Für Papa gab es keine Barrieren. »Det kriejen wa hin!« Und er hat es hingekriegt. Er sah überall nur Möglichkeiten. Mit dieser Haltung schickte er mich auf meinen Weg durchs Leben. Ohne sie wäre ich heute nicht, was ich bin.
    Ende der Vierzigerjahre wurde es beruflich schwierig für meinen Vater in Berlin. Er fand keine Arbeit mehr, auch nicht für einzelne Stücke. Und so entschied er kurzerhand: »Wir ziehn nach Hamburg.« Er fuhr allein vor, knüpfte Kontakte und suchte eine Unterkunft. Die ersten Engagements fand er beim Hörspiel, das damals boomte – und für das Hamburg mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk, wie er damals noch hieß, ein wichtiger Ort war. Als mein Bruder eingeschult wurde, zogen er und meine Mutter unserem Vater hinterher. Ich blieb allein in Berlin bei Tante Tuto, der Schwester meines Vaters, weil in Hamburg noch kein Platz war für uns alle.
    Bei der Abfahrt stand ich mit Tante Tuto am Bahnsteig. Noch immer sehe ich vor mir, wie Mami sich aus dem Fenster beugte und ihre Arme nach mir ausstreckte, als der Zug sich in Bewegung setzte. Ich schrie verzweifelt, bis sie nicht mehr zu sehen war.
    Mein neues Zuhause lag in der Klopstockstraße, direkt am Tiergarten. Tante Tuto und Onkel Bruno bekamen für meine Kost und Logis monatlich Geld von meinen Eltern. Sie hatten selbst keine Kinder und zumindest die Tante konnte nicht viel mit mir anfangen. Sie war eine affektierte Person, bei der immer alles leuchten musste. Sie liebte grelle Hüte, knalliges Rot auf den Lippen – krasses Jugendrot nannte man das – und bunten Schmuck. In ihrer Schatulle lag ein Paar Kirschohrringe, das sie mir schenkte und an das ich später denken musste, wenn ich mir im Sommer beim Spielen Kirschen über die Ohren hängte. Mit ihrem schrillen Zeug fand ich Tante Tuto einfach affig. Ich mochte lieber Onkel Bruno, der mit mir Scherze trieb und mich immer Sputnik nannte. Denn dass ich mich am liebsten rumtrieb, das änderte sich auch hier nicht, zumal ich die Wohnung nicht mochte. Alle Zimmer gingen vom großen Flur ab und ich musste ständig durch die kalte Halle mit dem grasgrünen, ramponierten Igelitboden. Nur das Wohnzimmer mit dem Erker war gemütlich. Hier stand der Esstisch, der immer ein bisschen wackelte, wenn die Bahn direkt hinter dem Haus vorbeirumpelte. Trotzdem saß ich nie lange am Tisch. Ich wollte schnell wieder runter, um die Gegend zu erkunden. Wupp – weg war ich. Und wenn ich die Tür hinter mir schloss, hörte ich Onkel Bruno rufen: »Sputnik, wo biste denn? – Isse schon wieder weg?«
    Das Haus war ein wunderschöner alter, roter Bau mit weißen Giebeln und Erkern, direkt am Bahndamm mit den Backsteinarkaden. Damals gab es schon die ersten Händler, die ihre Buden unter den Bögen aufschlugen, darunter auch einen Stand mit Süßigkeiten. Hin und wieder gab mir Tante Tuto einen Sechser von den paar Puseratzen, die mein Vater schickte, oder Oma steckte mir einen Groschen zu. Dann kaufte ich mir Zuckerstangen oder meine Lieblingsbonbons, die kleinen zuckrigen Zitronenscheiben. Auch gegenüber im Tiergarten gab es immer etwas zu sehen. Und ein paar Schritte weiter stand eine alte Kirche. Sie war meine neueste Entdeckung und bald mein ganz besonderer Tick: Jeden Sonntag um elf Uhr ging ich zum Gottesdienst. Ich schnappte mir, obwohl ich noch nicht lesen konnte, ganz selbstverständlich das Gesangbuch mit dem goldenen Kreuz und tat, als würde ich vom Blatt singen, und zwar aus voller Kehle: »Wach auf, mein Herz, und singe dem Schöpfer aller Dinge …« Ich fand es wundervoll. Allein der Geruch nach altem Gemäuer und Kerzen, dieses Weihnachtliche, wonach es in Kirchen immer riecht, das zog mich unglaublich an.
    So richtete ich mich schnell ein, war auch hier allein unterwegs, entdeckte das Viertel. Mehr brauchte ich nicht. Wenn Post aus Hamburg kam, sehnte ich mich zwar nach Mami, aber ich nahm es hin, dass ich warten musste. Ich trocknete meine Tränen und lief wieder raus zum Spielen. An manchen Tagen holte Oma mich ab, dann ging ich mit zu ihr nach Pankow. »Oma kommt!« – das war jedes Mal ein großes Ereignis, obwohl es feste Tage dafür gab. Wir marschierten zu Fuß den ganzen langen Weg von West nach Ost, den sie schon vorher allein gegangen war, um das
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