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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte
Autoren: Milena Michiko Flasar
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mich. Ich darf das meine neu erfinden. Auf diese Art ist ein jeder von uns in seinem Raum, und irgendwann, wer weiß, kommen wir zusammen und sitzen in einem, der uns beide umfasst, und wir verstehen dann: Wir waren niemals woanders.

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    Ob ich noch schreibe? Undenkbar, es nicht zu tun. Gerade in der finstersten Nacht waren die Wörter leuchtende Kieselsteine. Das Licht des Mondes und der Sterne, sie hatten es eingefangen und strahlten es wieder aus. Ein Wort war darunter, das besonders hell leuchtete. Das Wort von der Einfachheit. Ich würde mich ihm nähern, leichten Schrittes, es von allen Seiten her betrachten, es schließlich in die Hand nehmen, von ihm verzaubert, erkennen, dass sein Zauber darin liegt, von sich aus, aus seiner schieren Bedeutung heraus, zu leuchten. Einfachheit. Einfach da sein. Es einfach aushalten. Je mehr ich es aushielt, desto einfacher wurde es einzusehen, wie schön, einfach schön, es ist, da zu sein.
    Ich möchte so schreiben, wie dieses Wort leuchtet. Über die einfachsten Dinge möchte ich schreiben. Darüber, zum Beispiel, wie wir jetzt hier an diesem Tisch, uns gegenüber, nach zweieinhalb Jahren, einander von Dingen erzählen, über die man normalerweise schweigt. Der Matcha Latte* , den wir trinken, ist lauwarm, er schmeckt süß. Bald brichtdie Dämmerung herein. Der Tag rutscht mit der Sonne in die Nacht. Wir bemerken, es ist viel Zeit vergangen. Mein ausgestrecktes Bein erinnert uns daran. Du machst mir keinen Vorwurf. Wir sind Freunde, weißt du noch: Zwillinge, die sich über zwei halbvolle Gläser hinweg aneinander wenden. Ich habe dich vermisst. Du hast mich vermisst. So einfach. Die Klimaanlage surrt. Man unterhält sich, lacht. Die Kellnerin läuft hin und her und wenn sie einmal stehenbleibt, dann wischt sie sich mit der Schürze über das müde Gesicht.

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    Und Kumamoto hatte sich nicht verändert.
    Trotz seiner Behäbigkeit, trotz seines aufgeschwemmten Körpers saß er vor mir, ein Poet durch und durch, und hatte sich seine Ehrlichkeit bewahrt. Von ihm ging die zähe Kraft eines Menschen aus, der in seinen eigenen Abgrund gestiegen, schrecklich einsam, ihn ausgemessen hat. Und wieder oben war er derselbe, nur froh, wieder oben zu sein.
    Was denkst du? Ich legte die Hände flach auf den Tisch, sodass er die Narben sähe. Denkst du, braucht man uns? Ich meine Leute wie uns, die vom Weg abgewichen, sich entzogen haben. Die keinen Abschluss, keine Ausbildung, keine Arbeit, nichts vorzuweisen, nichts gelernt haben außer dieses: Dass es sich lohnt, am Leben zu sein. Er macht mir Angst, der Gedanke, wir könnten jetzt, da wir es gelernt haben, immer noch lernen, nicht gebraucht werden. Immerhin sind wir gezeichnet. Wir haben einen Makel. Was, wenn man uns das nicht verzeiht?
    Â»Was, wenn die Gesellschaft…
    â€¦uns nicht zurückhaben möchte?«
    Ich vermeide es, im Großen zu denken. Wenn ich denke: Die Gesellschaft. Dann geht mir der Kopf über. Zu groß. Was ist das? Ich sehe es nicht. Was ich sehe, sind Einzelne. Dabei möchte ich bleiben. Im Kleinen. Und da ist jeder gezeichnet, hat jeder einen Makel, braucht jeder jeden. Kumamoto legte seine Hände zu den meinen. Als ich dich vorhin wiederfand, Fingerspitzen an Fingerspitzen, war es ein Augenblick. Zuerst erkannte ich dich nicht. Du bist dünn geworden. Erst als du die Halteschlaufe losgelassen, im ruckelnden Waggon, leicht hin und her geworfen wurdest, erkannte ich dich an der Art und Weise, wie du dich, deine Füße im Boden, gegen die Stöße gestemmt hast. Die Türen sprangen auf. Sofort erhob ich mich. Dir nach. Ich wollte dich nicht noch einmal aus meinem Blick verlieren. Du warst schnell, schon bei der Rolltreppe. Ich kam kaum mit. Dir hinterherhumpelnd, wurde mir klar, wie sehr ich dich brauche. Ich bin angewiesen darauf, dir zu sagen: Es tut mir leid. Angewiesen darauf, von dir zu hören: Es ist gut. Du bliebst kurz stehen. Ich zögerte. Überrollt von dem Gefühl, kein Anrecht darauf zu haben, dich so sehr zu brauchen. Aber da standst du. Ich streckte die Hand nach dir aus, und vielleicht, das ist meine Antwort auf deine Frage, ist es gerade dieses Ausstrecken, dieses Sich-Hinstrecken zum anderen, welches am dringendsten gebraucht wird.
    Hast du Pläne, fragte ich weiter.
    Du?
    Ganz herauszukommen.
    Ich auch.

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    Was ich dich noch fragen möchte: Was hast du damals, kurz bevor du dich,
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