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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Manchmal habe ich Lust, mich flach auf den Boden zu legen und ihn über und über mit meinen Tränen zu benetzen. Nein, sowas erfindet man nicht, sowas ist echt. Ich sank ein und bestellte eine Cola. Kommt sofort. Mit geschlossenen Augen versuchte ich mich an sein Gesicht zu erinnern. Aber die Konturen hatten an Schärfe verloren. Wie bei Yukiko und Kumamoto war es mehr ein bestimmter Ausdruck, den ich behalten hatte. Traurige Anmut. Bei ihm war es traurige Müdigkeit gewesen. Als ich die Augen aufmachte, bemerkte ich, dass die Leute, mich eingeschlossen, in eben dieser Müdigkeit festsaßen, und wir alle schienen auf jemanden zu warten, der uns daraus befreien würde. Kalte Hölle, in der wir ausharrten. Hin und wieder fiel ein Satz: Man müsste etwas tun.
    Es brauchte sechs Wochen mehr, unzählige Auslassungen, die ich ihm, der nicht kam, erzählte, bis ich eine Antwort darauf fand.

102
    Mi-mi-mi. Das Weinen der Zikaden. Ich fing eine ein und ließ sie wieder frei. Ich ging durch eine Schlafstadt, verschlafene Siedlung. Weiße Hemden an den Wäscheleinen, ein Haus glich dem anderen. Vertrocknete Gärten im Taschentuchformat. Eingetopfte Palmen. Frauen und Babys. Die Kinder waren in der Schule, die Männer bei der Arbeit. Da drüben! Die knorrige Wurzel. Aufgesprungener Asphalt rundherum. Das Gartentor. Ich blickte hinauf. Ein Fenster war offen. Wehender Vorhang. Ich klingelte. Gleich würde die Tür aufgehen. Kyōkos Blumentöpfe. Der Handschuh. Ich klingelte noch einmal. Aus dem Haus nebenan kam leise Klaviermusik, unterbrochen von klapperndem Geschirr. Bald wurde es Mittag. Ich setzte mich auf den Randstein. Fühlte: So ist das also. Wenn die Tür zubleibt. So ist das also. Wenn man draußen steht und vergeblich auf ein menschliches Geräusch wartet. Die Sonne stach mich. Ich blinzelte.
    Hallo? Eine helle Frauenstimme. Sie kam die Straße hoch.
    Immer noch blinzelnd, versuchte ich, ihre Gestalt auszumachen. Sie kam mir entgegen. Ich war aufgesprungen. Ōhara-san?
    Ja, das bin ich. Und du bist? Taguchi Hiro? Ein Freund meines Mannes? Bitte verzeih. Er hat mir nie.
    Ich zog die Krawatte heraus.
    Oder vielleicht doch? Sie stieß das Gartentor auf, bat mich einzutreten. Die Krawatte hatte sie, eine gierige Handbewegung, an sich genommen. Zwei Stufen auf einmal. Als ich mir im Eingang die Schuhe auszog, sah ich die seinen, peinlich aufgestellt. Daneben die Aktentasche. Am Haken hing sein Sakko. Es roch nach Räucherstäbchen, zartbitter.

103
    Ich folgte Kyōko durch den Flur und ins Wohnzimmer. Keine Rassel am Boden. Es war still. Während sie in der Küche das Teewasser aufsetzte, saß ich auf der Couch, im Rücken ein Kissen, und schaute mich um. Zu Hause. Vor mir der Fernseher. Links davon die Kommode. Darauf die Schneekugeln und Spieluhren. Die Ballerina drehte sich auf dem Beistelltisch um sich selbst. An den Wänden hingen die nackte Frau, ihr Körper ein Knäuel, und der Matrose, unter seinen Augen ein Mädchen, aufsteigender Rauch. Rosa Stoffblumen. Ein Schwan mit geschwungenem Hals. Kristallfiguren. Ein voller Aschenbecher. Ich hatte ein Loch in der Socke, ich rollte die Zehen ein. Weicher Teppich. Darauf Bücher. In Stapeln geschichtet. Die Regale waren voll. Man hätte ein neues gebraucht.
    Etwas Yōkan* zum Tee? Kyōko goss uns zwei Schälchen ein. Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst. Aber. Sie lächelte. Ich wusste es ja nicht. Taguchi Hiro, sagtest du?Ich glaube nicht, dass er mir von dir erzählt hat. Oder hat er, und ich habe es vergessen? Ich frage mich oft, seitdem er. Ihr Lächeln zerfiel. Ich frage mich oft, ob ich ihn überhaupt gekannt habe. So ein plötzlicher Tod. Danach fragt man sich allerhand. Und als ich mit ihrem Lächeln zerfiel: Ja, er ist tot. Ein Herzversagen. Auf dem Heimweg. Im Zug. An einem Freitag. Vor sieben Wochen. Gestern wurde seine Asche beigesetzt. Wenn ich gewusst hätte. Ich hätte dir Nachricht gegeben. Immerhin. Du musst ihn. Ich meine. Die Krawatte. Er trug sie an dem Tag, an dem er starb. Kann das sein. Du warst der letzte, der? Sie verbarg ihr Gesicht nicht vor mir. Nicht, als ich zu erzählen begann. Nicht, während ich ihr erzählte. Nicht, nachdem ich zu Ende erzählt hatte. Ich sah, wie sie weinte, dann lachte, sich erinnerte, dann zurückkam, wie sie blass, dann rot, schließlich einfach nur da war. Wie sie die ganze Zeit über die
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