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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte
Autoren: Milena Michiko Flasar
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künstlicher Tiefschlaf. Danach wachte ich auf. Es war ein langsames Aufwachen, ein Blinzeln, ein leichtes Anheben der Decke, ein Spreizen der Finger. Als die Erinnerung in meinen Kopf zurücktröpfelte, wollte ich am liebsten wieder einschlafen. Reglos, ohne Bewusstsein. Still daliegen, während draußen das Leben. Von meinem Fenster aus sah ich die Lichter der Stadt. In meinen Gedanken warst auch du. Wie du auf mich zu. Dein Vertrauen in mich und meine Heiterkeit. Ich fühlte, ich wollte nicht dafür haften müssen, dass ich dein Vertrauen missbraucht hatte. Ich fühlte es wie den heißen Schmerz unterhalb der linken Hüfte.

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    Kumamoto hatte sich verändert. In seinen Bewegungen war nichts Fiebriges mehr. Eher hatten sie etwas Behäbiges. Sein Körper schien aufgeschwemmt, ich dachte an eine Leiche, die unter Wasser gewesen, von einer starken Strömung an Land geschwappt worden war. Das sind die Medikamente, sagte er. Sein lahmes Bein hatte er ausgestreckt.
    Es ist gut, sagte ich. Gut dich wiederzusehen.
    Er nickte: Wirklich gut.
    Bist du gesund geworden?
    Ich weiß es nicht. Nach jenem Unfall, man hat mich angehalten, davon als Unfall zu sprechen, folgte ein anderer, kurz nachdem ich entlassen worden war. Gas. Fast wäre unser Haus in die Luft gegangen. Ich kam in eine Klinik. Man gab mir diese Tabletten. Wieder schlief ich, wurde sanft in den Schlaf gezwungen. Ich erinnere mich nur lückenhaft. Da war ein Lichtstrahl, der mich in der Nase kitzelte. Eine Wasserkaraffe. Ein Kirschzweig, die Knospen sprangen auf. Eine Krankenschwester. Die Haare zu einem Knoten hochgesteckt. Ein Bild. Sie würde die Spange abnehmen, die Haare würden in weichen Locken über ihren Rücken hinfallen. Ein Patient, der immerzu lallte. Wir nannten ihn den Betrunkenen. Dabei trank er wie wir alle nur Wasser und Tee. Einmal sprach ich mit ihm. Er erklärte mir, lallend, dass er solche Sehnsucht danach habe, im Zustand des Rausches, ohne Gedächtnis, ohne Vergangenheit, in einem Eck auf der Straße zu liegen und die Schritte der Menschen an sich vorübergehen zu hören. Es würde ihn trösten, sagte er, dieses Geräusch von vorübergehenden Schuhen.
    Oder Hiroko, die Dicke. Sie glaubte, sie würde sich jeden Moment in Nichts auflösen. Siehst du mich, fragte sie. Siehst du, wie ich vergehe? Dabei war ihr Körper sodrall, man konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals vergehen würde. Wo sind meine Zehen, fragte sie, meine Füße, meine Knie. Voller Entsetzen betastete sie ihre Beine und schrie: Ich taste ins Leere. Am Ende musste sie über eine Sonde ernährt werden, weil sie davon überzeugt war, keinen Mund mehr zu haben.

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    Warum erzähle ich das? Ich denke, Krankheit ist das Festhalten an einer Illusion. Die Einsamkeit, während man daran festhält. Wenn ich sage, ich weiß nicht, ob ich gesund geworden bin, dann will ich sagen, ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist. Gänzlich frei zu sein. Aber: Ja. Seit einem halben Jahr geht es mir wieder so gut, dass ich nach und nach wieder Gefallen finden konnte an der Vorstellung, dir über den Weg zu laufen und dir zu sagen, dass es mich aufrichtig glücklich macht, dich wiederzusehen. In mir ist Neugierde: Was kommt als nächstes? Wunderbar. Solche Neugierde: Wie geht es weiter? Morgens stehe ich auf und empfinde, während ich mir das Gesicht wasche, eine schlichte Freude daran, derart neugierig zu sein. Das Wasser ist lebendig. Es spült den Sand aus meinen Augen, weckt mich auf. Es ist, als ob ich erst üben müsste, so lebendig zu sein wie das Wasser.
    Für die Eltern freilich ist es schlimm. Ich begreife das jetzt. Dass es schlimm für sie ist, die Illusion, die sie von mir hatten, zerschmettert zu sehen. Nicht länger daran festhalten zu können. Vor allem für Vater ist es ein schlimmer Verlust. Er redet ungern über das, was vorgefallen ist, und wenn, dann sagt er, es wäre ihm doch lieber gewesen, ich hätte, statt krank zu werden, weiter Gedichte geschrieben.Er wirft es so hin. Mit schwimmenden Augen. Schaut weg, wenn er hinzufügt: Weitaus lieber, du hättest ein langes, langes Gedicht geschrieben. Ich höre die Entschuldigung darin. Weil ich sie hören will, höre ich sie. Es ist eine Willensanstrengung. Ich bin sie ihm schuldig. Sie macht es leichter für ihn. Er muss sein Gesicht nicht verlieren. Sie macht es leichter für
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