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Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Titel: Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode
Autoren: Jens Bergmann
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Klavier, was sich später allerdings als Schummelei herausstellte.
Die Faszination des Bösen
    Sex ist der eine große Schlüsselreiz der Medien, Crime der andere: Große Verbrecher erregen große Aufmerksamkeit. Denn Berichte über Untaten rühren an geheime Wünsche vieler Menschen, auch einmal Grenzen zu überschreiten. Zum anderen sind sie Anlass, sich kollektiv zu empören, das schweißt zusammen. Deshalb kann sich des öffentlichen Interesses sicher sein, wer eine spektakuläre Straftat verübt. Kaum ein anderes Thema bringt die Presse so auf Trab – und nicht selten dazu, selbst Grenzen zu überschreiten Wie symbiotisch die Beziehung zwischen Kriminellen und Journalisten werden kann, zeigte sich hierzulande am Vormittag des 18. August 1988. Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner steckten nach einem Bankraub, bei dem Degowski einen 15-Jährigen erschossen hatte, und zweitägiger Flucht mit zwei jungen Frauen als Geiseln in der Kölner City fest. Dort befragten etliche Journalisten die beiden Gangster, als hätten sie Fußballspieler nach einem Lokalderby vor dem Mikrofon.
    Einer von ihnen, Udo Röbel vom Kölner Express , stieg – um die Situation zu entspannen, wie er sich später rechtfertigen würde – zu Rösner, Degowski und den Geiseln in den Wagen. 8 Er lotste sie, verfolgt von seinen Kollegen und der Polizei, auf die Autobahn. An einer Ausfahrt ließ man ihn aussteigen. Kurze Zeit später stoppte die Polizei den Wagen, eine der beiden Geiseln wurde dabei von Rösner erschossen. Röbel schrieb in Windeseile die Story seines Lebens, wie er meinte. Sie machte ihn weltweit bekannt und später, als sich Gesellschaft und Medien besannen, zum Buhmann, wie er klagt. Immerhin brachte er es nach seinem Coup noch bis zum Chefredakteur der Bild -Zeitung; heute schreibt er Krimis. Seine teilnehmende Beobachtungan einem Kapitalverbrechen gilt heute als Paradebeispiel für die Grenzüberschreitung von Journalisten.
    Was aber nichts am Reiz schlimmer Taten für Medien und Publikum geändert hat, mit der nicht zuletzt Terroristen gut kalkulieren können. So auch der Norweger Anders Breivik. Er zündete am 22. Juli 2011 im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe, fuhr dann auf die Insel UtØya, richtete unter den Teilnehmern eines Sommercamps der sozialdemokratischen Jugend ein Massaker an und ließ sich widerstandslos von der Polizei festnehmen. Kurz vor dem Morden, dem 77 Menschen zum Opfer fielen, hatte er ein mehr als 1500 Seiten starkes, krudes Pamphlet über seine Facebook-Kontakte in die Welt verschickt. »Breivik wusste«, schrieb der Stern , »dass sich die Medien auf seine Manifeste und Gedanken stürzen und sie verbreiten würden.« Und widmete dessen Massaker nicht weniger als 21 opulent bebilderte Seiten. In der letzten Ausgabe von 2011 adelte es der Stern gar zum »Verbrechen des Jahres« und breitete es erneut auf 21 Seiten aus.
    Weil Medien weltweit ähnlich agierten, bekam der Massenmörder, was er gewollt hatte: die ganz große Bühne. Eine der wenigen kritischen Stimmen fand sich ausgerechnet in der Bild von dem häufig delirierenden Franz Josef Wagner. Er schrieb: »Ich glaube, die höchste Strafe für den Attentäter wäre die Bedeutungslosigkeit. Nicht mehr über ihn zu berichten, seine Fotos nicht mehr zu zeigen, seine wirren Ideen nicht mehr im Internet zu lesen.« Ein Ratschlag, den auch seine Zeitung selbstverständlich ignorierte.
Tragisch: unfreiwillige Berühmtheit
    Während manche ohne Skrupel alles tun, um in die Medien zu kommen, geraten andere gegen ihren Willen oder durch dumme Zufälle in den Fokus der Öffentlichkeit. Es sind unfreiwillig Prominente beziehungsweise Medienopfer wie Regina Zindler. Die Hausfrau aus dem Vogtland in Sachsen machte 1999 den Fehler, einen echten Streit vor dem damaligen Schiedsgericht der Richterin Barbara Salesch bei Sat.1 auszutragen. Zindler ärgerte sich in der Sendung maßlos und in schwerstem Dialekt darüber, dass der Knallerbsenstrauch ihres Nachbarn angeblich ihren Maschendrahtzaun (»Moaschendroahtzauun«) beschädige. Vergeblich. Ihre Klage wurde abgewiesen.
    Ein gefundenes Fressen für den TV total -Moderator Stefan Raab. Der bastelte aus ihren O-Ton-Schnipseln den Countrysong »Maschendrahtzaun«, brachte es damit auf Platz 1 der Charts (später gab er der Zindler zehn Pfennig pro verkaufte CD ab) und löste eine Medienhysterie um die Frau aus. Schaulustige belagerten ihr Grundstück und beschädigten den Maschendrahtzaun stärker, als der
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