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Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Titel: Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode
Autoren: Jens Bergmann
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eine Waffe gegen die Übergriffe der Eitlen. Eine andere ist die ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen, wie sie Antje Tiefenthal betreibt. Die Journalistin liest gern bunte Blätter, wundert sich aber darüber, dass dort handwerkliche Standards so oft so souverän ignoriert werden. In ihrem Watchblog www.klatschkritik.blog.de nimmt sie sich nach dem Vorbild des Bildblogs das Genre vor, rezensiert allerlei Blätter und dokumentiert Ärgernisse aller Art. Von eklatanten Recherchefehlern – alte Fotos von Promis werden als neu ausgegeben oder falsch betextet – über Stilblüten, Uninspiriertes und frei Erfundenes bis hin zum Dauerthema Schleichwerbung.
    So äußerte Tiefenthal im Januar 2012 – nachdem ihr aufgefallen war, dass die einst dralle Christine Neubauer für die Firma Weight Watchers warb – die Vermutung, dass nun kaum ein Bericht über die Schauspielerin ohne den Hinweis auf die amerikanische Firma auskommen werde. Tatsächlich wurde sie in der Bunten (2/2012) fündig, wo es hieß: »Dank einem straffen Sportprogramm, ihres Personal Trainers Klaus Kerndl und einer Diät mithilfe von Weight Watchers hat sie 15 Kilo abgenommen. Die erlaubte Kalorienmenge wird dabei anhand einer Punktetabelle ermittelt.« Auch die Gala berichtete über den neuen Job der populären Aktrice, und in der Online-Ausgabe des Stern durfte Neubauer die Methoden der Abspeckfirma – von der sie bezahlt wird – im redaktionellen Teil anpreisen.
    Zu prüfen, ob Neubauers Story überhaupt stimmt, auf diese Idee kam offenbar niemand in den Redaktionen. Dabei wäre das kinderleicht gewesen, wie Harald Dzubilla vorführte, der unter dem Pseudonym Spießer Alfons für die Fachzeitschrift Horizont schreibt und bloggt. Eine einfache Internetrecherche ergibt, dass die Neubauer sich bereits im August 2011 in der Bild am Sonntag rank und schlank präsentiert hatte. Ihr neuer Lover sei das Motiv, Sport und gesunde Ernährung ihre Methoden gewesen, um zehn Kilo abzuspecken, sagte sie dem Blatt. »Diesen BamS-Bericht«, so Dzubilla, »muss man bei Weight Watchers gelesen haben, woraufhin die Werber das ehemalige Vollweib als Protagonistin vor die Werbekamera geschleppt haben, wo die liebe Christine nun behauptet, dass Weight Watchers sie so schlank gemacht hat […].«
    Tiefenthal nannte die in der Yellow Press vorherrschende Haltung einmal »strategisches Verarschen der Leser«. Mit ihrem Blog wolle sie klarmachen, dass das nicht unbemerkt bleibe. »Es hört sich banal an, aber so geht es nicht.«
Spot aus
    Wir leben im Zeitalter der Wichtigtuer. Sie belästigen uns auf allen Kanälen, noch nie war es so schwer, ihnen zu entkommen. Das gilt besonders für die sozialen Medien, diese gigantischen Selbstinszenierungsmaschinen. Ein Leben ohne Facebook, Twitter & Co. können sich die meisten jungen Leute nicht vorstellen. Netz-Utopisten beschwören bereits das Ende der Privatsphäre: Datenschutz habe keinen Sinn mehr, wenn alle alles über sich preisgeben.
    Doch vielleicht kommt es auch anders. Denn die Tyrannei der Intimität provoziert Gegenreaktionen. Wenn Abermillionen Ich, ich, ich! schreien, bleiben Ohrenschmerzen nicht aus. Bereits heute ist ein erheblicher Anteil der Mitglieder von Onlinenetzen mit gemischten Gefühlen dabei. Sie meinen, beispielsweise ohne Facebook nicht auszukommen, finden die Firma – zu deren Geschäftsprinzip der freundlich getarnte Übergriff gehört – aber nicht wirklich sympathisch. Man hält sich online bedeckt, verrät möglichst wenig über sich oder operiert gar mit falscher Identität (was dem Unternehmen, da es auf valide Daten angewiesen ist, überhaupt nicht gefällt). Und manch einer löscht nach einer Weile sein Profil, weil er festgestellt hat, dass es Zeitverschwendung ist, sich gegenseitig vorzumachen, wie toll man sei.
    Die Eitelkeitsgesellschaft, das sind wir alle. Wir können uns zu Tode inszenieren. Oder uns dem wirklichen Leben zuwenden.

Nachbemerkung
    Dieses Buch über die Inflation von Prominenz und ihre Folgen hätte eigentlich in einem anderen Verlag erscheinen sollen. Er gehört zu einem der größten Medienhäuser der Welt, das, so die Eigenwerbung, für Meinungsvielfalt stehe. Mein Manuskript war fertig bearbeitet und gesetzt, vom zuständigen Juristen des Konzerns auf justiziable Stellen hin geprüft und von mir schließlich zur Produktion freigegeben worden. Das Buch war im Handel angekündigt, es waren sogar schon Werbebroschüren produziert. Ich wähnte mein Werk auf dem Weg in die
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