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Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)

Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)

Titel: Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Tahereh H. Mafi
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zitternde Stift ist meine Kehle .
    Dieses Blatt Papier ist mein Spucknapf .
    »Warum gibst du keine Antwort?« Er ist zu nah zu nah zu nah.
    Niemand ist jemals nah genug.
    Ich sauge Luft ein und warte darauf, dass er wegläuft, wie alle anderen in meinem Leben. Meine Augen sind aufs Fenster gerichtet, auf eine Verheißung. Eine Verheißung von etwas Großartigem, etwas Wunderbarem, einem Grund für den Irrsinn in meinen Knochen, eine Erklärung für meine Unfähigkeit, jemanden zu berühren, ohne alles zu zerstören. Ein Vogel wird kommen. Er wird weiß sein und auf dem Kopf goldene Federn haben wie eine Krone. Er wird fliegen. Ein Vogel wird kommen. Er wird –
    »Hey –«
    »Du darfst mich nicht anfassen«, flüstere ich. Ich lüge, doch das verschweige ich. Er darf mich anfassen, aber das werde ich ihm nicht sagen. Bitte fass mich an, möchte ich in Wahrheit sagen.
    Aber wenn man mich anfasst, geschieht Seltsames. Schlimmes.
    Totes.
    Ich kann mich nicht an die Wärme einer Umarmung erinnern. Meine Arme schmerzen von der brutalen Kälte der Isolation. Meine eigene Mutter konnte mich nicht im Arm halten. Mein Vater konnte meine frierenden Hände nicht wärmen. Ich lebe im Nichts.
    Hallo.
    Welt.
    Du wirst mich vergessen.
    Klopf klopf.
    Zellengenosse springt auf.
    Zeit zum Duschen.

3
    Die Tür geht auf. Dahinter ein Abgrund.
    Keine Farbe, kein Licht, keine Verheißung, nur Grauen. Keine Worte. Keine Anweisung. Nur die offene Tür, die immer das Gleiche bedeutet.
    Zellengenosse hat Fragen.
    »Was zum Teufel?« Er schaut von mir zu diesem Trugbild von Flucht. »Die lassen uns raus?«
    Die werden uns nie rauslassen . »Zeit zum Duschen.«
    »Duschen?« Seine Stimme klingt tonloser, aber immer noch fragend.
    »Wir haben nicht viel Zeit«, sage ich. »Müssen uns beeilen.«
    »Warte mal, was?« Er greift nach meinem Arm, doch ich weiche aus. »Aber es ist dunkel da draußen – wir können nicht sehen, wo wir –«
    »Schnell.« Ich schaue zu Boden. »Halt dich an meinem T-Shirt fest.«
    »Wie meinst du –«
    In der Ferne schrillt eine Sirene. Ein Brummen kommt näher. Bald wird die ganze Zelle vibrieren, und dann geht die Tür zu. Ich packe Zellengenosse am T-Shirt und ziehe ihn mit mir ins Schwarze. »Sei. Ganz. Still.«
    »Aber –«
    » Still «, zische ich. Ich zupfe an seinem T-Shirt, damit er mir folgt, und taste mich voran durch das Labyrinth des Irrenhauses. Es ist ein Heim, ein Zentrum für gestrauchelte Jugendliche, für verlassene Kinder aus zerbrochenen Familien, ein Zufluchtsort für die psychisch Kranken . Es ist ein Gefängnis. Sie geben uns kaum etwas zu essen, und wir sehen uns nie. Nur ganz selten, wenn ein Lichtstrahl durch die Glasschlitze fällt, die sie als Fenster bezeichnen. Die Nächte sind zerfetzt von Schreien und Schluchzen, Jammern und Klagelauten, den Geräuschen von reißendem Fleisch und brechenden Knochen, durch Gewalt oder aus freiem Willen, das weiß ich nicht. Die ersten drei Monate habe ich in Gesellschaft meines eigenen Gestanks zugebracht. Niemand hat mir gesagt, wo sich Klos und Duschen befinden. Niemand hat mir gesagt, wie das System funktioniert. Niemand spricht mit mir, außer um schlechte Nachrichten zu übermitteln. Niemand berührt mich. Jungen und Mädchen finden niemals zusammen.
    Bis gestern.
    Das kann kein Zufall sein.
    Meine Augen gewöhnen sich an den künstlichen Mantel der Nacht. Meine Finger tasten an den rauen Wänden entlang, und Zellengenosse bleibt stumm. Ich bin beinahe stolz auf ihn. Er ist fast 30 Zentimeter größer als ich. Sein Körper ist fest und muskulös, kraftvoll wie bei Jungen meines Alters. Die Welt hat ihn noch nicht gebrochen. So viel Freiheit durch Ahnungslosigkeit.
    »Wa–«
    Ich zerre an seinem T-Shirt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Wir haben die Korridore noch nicht hinter uns. Dieser Mensch könnte mich mit zwei Fingern umbringen, aber ich habe das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Er ahnt nicht, dass seine Unwissenheit ihn verletzlich macht. Er ahnt nicht, dass sie ihn ohne jeden Grund töten könnten.
    Ich habe beschlossen, mich nicht vor ihm zu fürchten. Ich habe beschlossen, dass er nicht bedrohlich, sondern unreif auf mich wirkt. Er ist mir so vertraut so vertraut so vertraut . Ich kannte mal einen Jungen mit solchen blauen Augen, und meine Erinnerungen wollen nicht zulassen, dass ich ihn hasse.
    Vielleicht hätte ich gerne einen Freund.
    Noch zwei Meter, dann wird die Wand glatter, und wir biegen rechts ab. Ein halber Meter
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