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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich
Autoren: Penny Hancock
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auf seine Reaktion zu achten, gehe ich höher, reibe Vaseline auf seine Brustmuskeln, spüre die spitzen Brustwarzen, und gehe weiter zum Hals, wo ich den Gips gemächlich in die Vertiefungen über seinen Schlüsselbeinen drücke. Meine Finger liebkosen seine Schultern, die zarten Knorpel an seinem Hals, seine Ohren. Über sein markantes Kinn wandern sie bis zu seinem Gesicht. Bald ist sein Körper eine weiße Silhouette, nur seine Umrisse sind noch zu erkennen. In genau diesem Alter habe ich Seb zum letzten Mal gesehen.
    »Das ist komisch. Es wird ganz schwer«, sagt Jez. Durch die Drogen wird seine Stimme matt, seine Zunge muss sich wie Leder anfühlen. Er reißt die Augen auf. Er sieht aus, als würde es ihm reichen.
    »Das kommt davon, dass der Gips trocknet«, erkläre ich ihm.
    »Ich fühle mich wie eingesperrt. Ich glaube, das gefällt mir nicht. Es ist heiß.«
    »Das ist nur die chemische Reaktion zwischen dem nassen Gips und der Luft. Es ist bald vorbei.«
    »Was ist mit meinem Gesicht?«, fragt er.
    »Nicht reden. Du darfst dich nicht bewegen, sonst funktioniert es nicht.«
    »Aber – Sie können doch mein Gesicht nicht zuschmieren. Dann bekomme ich keine Luft mehr!«
    »Hier ist ein Strohhalm. Nimm ihn in den Mund.«
    Ich lege ihm Binden über das Gesicht und drücke sie mit den Fingerspitzen in das Tal zwischen Kinn und Lippen. Kurze Stücke kommen über seine Nase und Wangen. Ich streiche sie über seine Augenhöhlen und tupfe den Gips mit einem Finger auf seine Lider. Über jede Wölbung, in jede Senke. Schließlich ist er fertig. Er liegt als weiße Gestalt im verblassenden orangefarbenen Licht und kann sich nicht rühren. Es ist mir gelungen. Ich habe ihn.
    Sie kommen früh am nächsten Morgen ins Flusshaus. Durch die Fenster meines Zimmers zuckt blaues Licht. Wie in Trance stehe ich auf und gehe nach unten. Die Tür in der Hofmauer haben sie schon aufgebrochen, jetzt machen sie sich mit Brecheisen an der Haustür zu schaffen, während andere gegen die vergitterten Fenster hämmern und über uns Hubschrauber kreisen. Sie laufen die Treppe hinauf, schwere Stiefel, Schutzwesten, Elektroschocker in Holstern, Lederhandschuhe. Ich sehe sie vorbeilaufen. Einer von ihnen dreht mir einen Arm auf den Rücken, während die anderen die Treppe zum Musikzimmer hinauflaufen. Ich höre, wie sie gegen die Tür hämmern und daran rütteln. Sie eintreten. Ich lächle, weil ich weiß, was sie finden werden. Der Jez im Musikzimmer ist starr und leblos, jede Pore seiner Haut ist perfekt nachgebildet. Die Hülle einer Spinne in einem seidenen Netz, damit sie nie alt wird. Ohne den lebenden Körper. Von dem echten Jez ist keine Spur mehr zu finden, als wäre er nie hier gewesen. Ich gehe ruhig mit ihnen, weil nichts mehr zu tun bleibt.

K APITEL E INUNDVIERZIG
    Ein Jahr später
    Sonia
    Hier drin weiß man nicht, welche Jahreszeit ist oder auch nur, wie das Wetter aussieht. Das Licht draußen hat schon den ganzen Tag fahl gewirkt, aber jetzt verblasst es ganz. Die Äste an dem gedrungenen Baum sind wieder kahl. Viel mehr ist auch schon nicht zu sehen. Ein hoher Zaun, über den sich Stacheldraht zieht, die Betonwand eines mehrstöckigen Parkhauses. Kein Fluss. Sie haben mich vom Fluss weggeholt.
    Er kommt zu mir, nachdem die Teebecher auf Tabletts abgeräumt wurden. An seinem Schal und der Wolljacke erkenne ich, dass draußen tatsächlich Winter ist. Er setzt sich auf den grünen Plastikstuhl und sieht mich mit diesem vertrauten Blick an, die Augen halb geschlossen, als würde er versuchen zu verstehen. Ich sage nichts, ich erwidere seinen Blick nur. Ich erinnere mich daran, wie seine Wimpern über meine Fingerspitzen gestrichen sind. An seine heiße Haut unter meinen Lippen. Den warmen Duft hinter seinem Ohr. Aber das ist nicht mehr der Junge, der halb bewusstlos zwischen den Pfählen lag, wo ich ihn habe gehen lassen. Er ist größer, kräftiger. Ich erinnere mich an die kaum vorhandenen Bartstoppeln und sehe, dass sie jetzt dunkler und dicker sind. Seine Jugend ist vorüber, wie der Clipper, der über den Fluss rast, bis er nicht mehr zu sehen und zu hören ist, und mit seinem Fahrwasser alles ins Wanken bringt, während er hinter der nächsten Biegung Richtung Themse Barrier verschwindet.
    Er bleibt eine Weile. Erzählt mir, dass es ihn zum Flusshaus zurückzieht. Oft setzt er sich auf die Mauer gegenüber. Er hat das Gefühl, es wäre ein Teil von ihm. Die Menschen, die jetzt dort wohnen, kennt er nicht. Greg und Kit
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