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Huff, Tanya

Huff, Tanya

Titel: Huff, Tanya
Autoren: Blood Ties 05 - Blutschuld
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festen dünnen
Schicht.
    Wermut und Galle. Er schluckte zögernd.
    Seine Hand ruhte auf dem Schalter einer kleinen
Schreibtischlampe, die er mit in den Wandschrank genommen hatte. Ein helles
Licht wäre ebenso unsinnig gewesen wie völlige Finsternis: Das Deckenlicht im
Schrank hätte ihn selbst nur geblendet und die Geister so durchsichtig
erscheinen lassen, daß sie genausogut hätten unsichtbar sein können.
    Henry betätigte den Schalter seiner kleinen Lampe und
konnte nun sehen, daß die beiden Geister, die ihn die ganze Zeit verfolgt
hatten, ganz dicht an seine Füße gepreßt standen. Um die beiden herum - und um
Henry -standen weitere. Henry hätte nicht sagen können, wie viele. Er konnte
sie nicht zählen, denn sie waren einmal scharf, dann wieder unscharf: hier eine
junge Frau, die eine Ecke der Oberlippe von einem Ring durchstochen, dort
Augen, die gequält unter einem wilden Haarschopf hervorlugten. Gesichter.
Körper. Der unsichtbare Chor hatte Gestalt angenommen.
    Angst.
    Von ihnen allen stieg Angst auf wie dichter Rauch und
füllte den Raum, bis selbst Henry es nicht mehr ertragen konnte.
    Dr. Mui wandte sich vom Fenster ab und starrte in die
Schatten, die ihre Wohnung füllten. Sie hatte plötzlich das deutliche Gefühl,
nicht mehr allein zu sein und hob abwehrend die Hand.
    „Ich sollte wohl lieber Licht machen!"
    Aber ihre Stimme drang nicht wirklich über ihre Lippen und
schaffte es nicht, in der Stille irgendeinen Eindruck zu hinterlassen.

Ein Schritt. Zwei.
    Schon stand sie mit den Schultern an der Fensterscheibe.
    Henry war in die Ecke gedrängt worden und konnte sich
nicht mehr erinnern, wann und wie er dorthin gekommen war. Der Schrank hatte
sich mit den amorphen Umrissen zahlreicher Toter gefüllt, nur die
ursprünglichen beiden hatten ihre Gestalt behalten. Alle, alle schienen sie zu
warten.
    Zu warten.
    Worauf nur zu warten?
    Henry wollte lediglich, daß sie verschwanden. Er hatte
bereits den Mund geöffnet, wollte sie auffordern, ihn in Ruhe zu lassen, da
erinnerte er sich. Ihn wollten sie ja gar nicht.
    „Wer ist da?"
    Sie - wer immer sie auch sein mochten - kamen näher.
    „In der linken unteren Schublade meines Schreibtischs
befindet sich ein Safe. Nehmen Sie das Geld und verschwinden Sie!" Das
letzte Wort des Satzes entglitt der Ärztin und steigerte sich zu einem
Aufschrei, ehe es verhallte.
    Immer noch stemmte Dr. Mui die Füße gegen die
mexikanischen Fliesen des Bodens. Das Fensterglas in ihrem Rücken knackte.
    Er spürte ihr Leben. Sie war nicht direkt im Nebenzimmer,
aber das spielte keine Rolle. Das Herz der Frau schlug so laut, daß er es
bestimmt auch von seiner eigenen Wohnung aus gehört hätte.
    Ich bin Henry Fitzroy. Einst war ich Duke of Richmond und
Somerset, Herzog von Nottingham, Ritter des Hosenbandordens. Mein Vater war
König, und ich bin der eingeborene Tod. Ich krieche nicht vor den Toten im
Staub.

Nun erhob sich der Hunger, um sich der Angst zu stellen
und verschaffte Henry genügend Spielraum, um auf die Beine zu kommen. Mit
dunklen, zusammengekniffenen Augen. „Also?" fragte er in die Runde. „Soll
sie damit durchkommen?"
    Auf diese Frage konnte es natürlich nur eine einzige
Antwort geben.
    Dr. Mui hatte Leben und Tod mit brutaler Effizienz
ausgeteilt, durch einen selbstgeschmiedeten Panzer aus stahlharter Eigensucht
gegen alle Gewissensbisse und Bedenken geschützt, die sie hätten plagen
können. Nie hatte sie der anklagende Blick der Spender berührt, wenn diese
feststellen mußten, daß der Ausweg aus Armut und Elend, den Dr. Mui ihnen bot,
nicht der Ausweg war, von dem sie geträumt hatten.
    Mit ihr hatte das alles nichts zu tun gehabt.
    Bis jetzt. Nun hatte es nur noch mit ihr etwas zu tun.
    Die Toten heulten ihre abschlägige Antwort auf Henrys
Frage, und ihr Heulen war das von Menschen, die hatten erleben müssen, wie man
sie um einen winzig kleinen Hoffnungsschimmer betrog und ihnen dann das nahm,
was ihnen als letztes noch verblieben war: das Leben. Das Leben, das man ihnen
einfach so nahm, ohne Leidenschaft, ohne Verzweiflung, ohne irgendeine
Entschuldigung, rein aus Habgier.
    Wieder und wieder schlug die Ärztin mit dem Kopf gegen das
Fenster. Das Glas hielt stand, aber bei jedem Aufprall zeigten sich neue, karmesinrote
Spuren.
    Die Verzweiflung im Raum verschloß ihr die Augen, schloß
ihr den Mund, schloß ihr die Nase, trieb ihr die Luft aus den Lungen, legte
sich über sie wie feuchte Erde. Erstickte sie. Begrub sie.

Sie fiel auf alle
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