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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Autoren: Jörg S. Gustmann
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qualvollsten Tötungsarten war, doch dass die Opfer derart leiden mussten, hätte er nie gedacht. Angewidert schaute er sich um und betrachtete die Zuschauer dieser Exekution: Männer und Frauen, die dem Sterben dreier zum Tode verurteilter Menschen beiwohnen wollten. Ihre Motive blieben bis zu dem Zeitpunkt verborgen, in dem die ersten Nägel durch die Hand- und Fußgelenke der Verurteilten getrieben wurden. Jetzt konnte man mühelos die Geister der Umherstehenden unterscheiden: Da gab es herzzerreißendes, mitleidiges Schluchzen auf der einen Seite und grölende, der Hinrichtung zustimmende Sensationslust auf der anderen. Immerhin war dies die erste Kreuzigung, bei der ein angeblicher Sohn Gottes zu Tode kam.
     
    Der Fremde war mit seinem Standort zufrieden. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Er versuchte, sich innerlich abzuschotten und das langsame Sterben der drei Männer an sich vorbeiziehen zu lassen. Er wollte sich auf seinen Plan konzentrieren und ignorieren, welch unsagbare Schmerzen die viereckigen Nägel in den Gelenken verursachen mussten, die das Gewicht der Sterbenden trugen und tief in die Haut schnitten. Es entging ihm nicht, wie der Atem der herunterhängenden Körpers schwerer und schwerer wurde.
    Er konnte die unvorstellbar barmherzigen Aussprüche Jesu hören, die dieser mehr seufzte als artikulierte: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« Und: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
    In einem plötzlichen Anflug von Schwäche setzte er sich zu den anderen Zuschauern auf den staubigen Boden. Was war mit ihm los? Er befand sich in unmittelbarer Nähe der drei Kreuze, was auch deshalb wichtig war, weil er seine Brille vor der Abreise hatte ablegen müssen. Er hockte wie all die anderen da und schaute zu, wie die drei Männer an den Kreuzen ihrem Ende entgegengingen.
    Obwohl er ein skrupelloser Mensch war, berührte ihn das Spektakel mehr, als er vermutet hatte. Genaugenommen hatte er sich vorher keine richtigen Gedanken darüber gemacht, wie es sein mochte, den Menschen sterben zu sehen, von dem viele behaupteten, er sei der Sohn Gottes. Es ging hier nicht um einen beliebigen Verbrecher, sondern um einen, der die Geschichte verändern sollte. Nie zuvor hatte er bedacht, wie eine Kreuzigung wirklich ablief – und dass auch Jesus als Mensch starb, ungeachtet seines göttlichen Wesens. Der Körper, der dort an dem Kreuz hing, war der eines Menschen. Somit hatte dieses im Brustkorb zusammengepresste Herz Mühe, das dickflüssige Blut in die Organe zu pumpen, und die gefolterten Lungen vollbrachten Unglaubliches, um kleine Mengen von Luft zu erkeuchen.
    Auch ohne seine Brille sah der Reisende, dass aus den vielen kleinen Wunden, die man dem Mann in der Mitte zugefügt hatte, Rinnsale roten Blutes auf den staubigen Boden tropften. Dies alles konnte der Fremdling noch ertragen, ohne eine innere Not zu empfinden. Was ihn indes irritierte, waren die Augen dieses Mannes, die auf ihm ruhten, tief in seine verkümmerte Seele blickten und ihm zeigten, wie sehr er, der Zuschauer, der Heilung durch diesen Gekreuzigten bedurfte. Der Reisende wurde unruhig. Er wollte diesem Blick ausweichen und dennoch gab er sich ihm hin und ließ sich von ihm überführen.
    Dann verschied der, über dem ein Schild mit der Inschrift ›INRI‹ hing, mit einem lauten, aufbäumenden Seufzer.
    Das Weinen und Heulen der am Fuß des Kreuzes lagernden Menschen nahm an Intensität zu. Der Fremde musste jetzt achtsam sein, es näherte sich der Zeitpunkt, an dem der römische Legionär in Aktion treten würde. Die Augen des Christus waren nicht mehr lebendig, doch was sie in dem Reisenden angezündet hatten, brach sich Bahn. Dessen Herz schlug so schnell, dass es ihm in der Brust schmerzte und er sich hektisch nach allen Seiten umschaute. Er hatte sich von dem schmutzigen Boden erhoben und wurde ständig, mal links, mal rechts, angeschubst. Die Menge war außer sich, der Himmel hatte sich von einem Moment auf den anderen verfinstert und ein Donnern hatte die Luft zum Vibrieren gebracht.
     
    Ein kräftiger, römischer Soldat schob sich durch die Menge. Der Hauptmann ließ sein Ziel nicht aus den Augen und steuerte unbeirrt und entschlossen an dem Fremden vorbei.
    Jetzt heißt es handeln , dachte dieser und stolperte verwirrt hinter dem Römer her. Seine Kraft war durch das zuvor Erlebte geschwächt, und sein Plan erschien ihm nun sinnlos und leer. Noch hätte er umkehren oder sich
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