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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Autoren: Jörg S. Gustmann
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wach bleiben, und genau dieser Gedanke plagte sie noch Monate später, bis sie gelernt hatte, zu akzeptieren, was geschehen war.
     
    Als das Licht durch die Ritzen der Fensterläden schien, war es neun Uhr. Raphaelas Kopf schmerzte, als sie aus dem Bett kroch. Sie hatte über Nacht ein T-Shirt getragen und zog sich ihre Jeans an. Es war ruhig im Haus. Sicher hatte der Pater längst das Frühstück bereitet und war mit seinen täglichen Verrichtungen beschäftigt. Sie verließ ihr Zimmer und ging nach draußen. Die Sonne stand hell am Himmel und sie musste sich die Augen verdecken. Auch in ihrem Inneren erschien es ihr heller als zuvor, und sie spürte deutlich, dass etwas Neues in ihr geboren worden war.
    Sie ging um das Haus herum und überblickte das Gelände. Montesi war nirgends zu sehen, darum lief sie ins Haus zurück, um ihn zu suchen. Eine dunkle Ahnung beschlich sie und sie beschleunigte ihre Schritte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass weder für ein Frühstück gedeckt worden war, noch dass irgendwelche Dinge zum Verzehr bereitstanden. Nach einem unbeantworteten Anklopfen öffnete sie vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer des alten Mannes. »Guten Morgen, Pater. Es ist schon neun.«
    Langsam schob sie die knarrende Holztür auf. Pater Montesi lag auf seinem bescheidenen Lager. Seine Augen waren geschlossen und auf seinem Bauch ruhte zwischen seinen Händen die zerlesene Bibel. Sie näherte sich ihm in der Hoffnung, er habe nur verschlafen. Doch sie erkannte, dass er niemals wieder zu jemandem in dieser Welt reden würde.
     
    Geschockt setzte sie sich zu ihm auf den Boden. Dieser Mann hatte sich keinen Luxus gegönnt und war doch reicher gewesen als alle Leute, die sie kannte. Sie betrachtete seinen friedlichen Blick und erinnerte sich an sein ›Leb wohl‹, dem sie am Abend keine besondere Bedeutung beigemessen hatte. Er muss es gespürt haben. Er hat den letzten Tag seines Lebens mit mir verbracht, und wir haben zusammen die Lanze vergraben. Einen Tag später und er wäre vielleicht …, nein wäre er nicht. Es sollte so sein, dass er lebt, bis ich hierher komme, oder hätte ich die Chance verpassen können?
    Raphaela stand auf und verließ den toten Mönch. Sie beschloss, ein letztes Mal den Hügel hinaufzugehen, den sie am Abend zuvor mit Montesi beschritten hatte. Dann erst würde sie den Abt aus dem Kloster holen. Sie schaute sich nach allen Seiten hin um und suchte die Stelle, an der sie die Lanze vergraben hatten. Sie erwartete den Streifen festgetretener, brauner Erde und wurde stattdessen auf einen eigentümlichen Fleck aufmerksam, der so gar nicht in die Umgebung des grünen Grases passte. Dort wuchs eine Vielfalt bunter Blumen. Es war wie ein kleines Beet, das über Nacht von jemandem angelegt worden sein musste. Wer tut so etwas so Törichtes?
    Sie bückte sich zu den Blumen herab und war sich sicher, dass hier die Stelle gewesen war, an der sie das Versteck der Lanze ausgehoben hatten. Es roch paradiesisch, intensiv in Anbetracht der kleinen Fläche. Trotz ihrer Trauer um den alten Mann, der ihr soviel Liebe geschenkt hatte, lächelte Raphaela bei dem Anblick der vielen Blüten.

EPILOG
    Nach einer Weile erreichte die Menschenmenge ein Plateau, das Golgatha hieß. Es war ein finsterer, schmutziger Platz, der sich über die Umgebung erhob. Das Herz des bartlosen Fremden schlug schneller, die Vorsehung hatte ihn genau dorthin gebracht, wo er hingewollt hatte. Ohne die geringsten Ortskenntnisse war er hierher geleitet worden. Das bestätigte ihn in der Gewissheit, einem höheren Wesen unterstellt zu sein. Einem, das dieselben Gedanken mit ihm teilte, dieselben Absichten hegte und ihn als Werkzeug benutzte, um einen genialen Plan auszuführen.
    Der Fremde schaute sich die Umgebung genau an. Es war wichtig, sich alles einzuprägen,es konnte sein, dass am Ende alles sehr schnell gehen musste. Vor allem merkte er sich den Weg, den er gekommen war.
    Eine weitere, große Menschenmenge näherte sich. Ihr voran schlurfte ein kräftiger, dunkelhäutiger Mann, der einen Holzbalken auf seinen Schultern schleppte. Ihm folgte stolpernd und blutend ein zweiter, stark geschwächter Mann, der gefoltert worden war. Der Fremde ahnte, dass dieser Mensch der Grund seiner Reise war. Dieser Jesus konnte sich kaum auf den Beinen halten und litt starke Schmerzen.
    In den darauffolgenden Minuten erlebte der Fremde etwas, das er sich in seiner Fantasie so nicht vorgestellt hatte. Er wusste, dass der Tod am Kreuz eine der
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