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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Autoren: Jörg S. Gustmann
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verstehen, was die Mönche in diese traumhafte Einöde verschlagen hatte. Hier bekamen sie die Gelegenheit, fern all der täglich durch die Nachrichten verbreiteten Tragödien ein Leben voller Genügsamkeit zu führen.
    Raphaela näherte sich dem alten Backsteinhaus und mit jedem Schritt wuchs nicht nur ihre Spannung, das Geheimnis der Lanze zu erfahren, sondern auch die Sehnsucht, den alten Mann wiederzusehen. In seiner Gegenwart fühlte sie sich wohl und geborgen. Sie bog um die Ecke, sah ihn sofort und hielt kurz inne, um die Szene zu betrachten. Eigentlich hätte Montesi sie kommen hören müssen, doch das Alter hatte seine Ohren schwach werden lassen. Er saß auf einer knöchelhohen Stufe zu seinem Haus, hatte die Knie angewinkelt und las in einem Buch. Leise murmelte er vor sich – auch ein Grund, warum er sie nicht gehört hatte.
    Er blickte auf und wandte ihr sein sonnengegerbtes Gesicht zu. Rillen und Falten durchzogen es, und es lag ein tiefer Frieden darin. Da war es wieder, dieses Leuchten in seinen Augen, die gar nicht so alt schienen, auch wenn alles andere an ihm gebrechlich wirkte wie dünnes Glas. Diese Fenster seiner Seele waren lebendig, herzlich und von Güte und Milde erfüllt. Er stützte sich mit der einen Hand am Türrahmen ab und stemmte sich mit der anderen vom Boden hoch. Ein Stöhnen entwich ihm, als er sich erhob und kam dann strahlend auf sie zu, um ihr endlos lange die zierlichen Finger zu schütteln, die in seiner von harter Arbeit geprägten, väterlichen Hand versank. Hätte man sein hohes Alter vergessen, hätte man meinen können, er schaue sie verliebt an. Doch es war die fürsorgliche Liebe eines Vaters.
    »Wissen Sie, warum ich Paulus so mag?«, fragte er sie, als sei sie nie fort gewesen. Raphaela zog die Brauen hoch und schaute verdutzt. Sie schüttelte den Kopf.
    »Er war felsenfest davon überzeugt, dass es kein Verlust sei zu sterben, weil ihn der, dem er gedient hat, mit offenen Armen erwarten würde. Und ich glaube, Jesus steht jetzt mit offenen Armen da und wartet auf mich.«
    Raphaela schaute in den dunkelblauen Himmel. »Dort oben?«
    Montesi zuckte lächelnd die Schultern. »Keine Ahnung. Schon möglich. Der Himmel ist, glaube ich, weniger ein Ort als vielmehr ein Zustand. Ob der nun oben oder unten, rechts oder links ist, kann ich nicht sagen. Wichtig ist für mich nur, dass Jesus da sein wird.« Montesi schmunzelte. »Können Sie sich etwas Schöneres vorstellen als in der Gegenwart Gottes auszuruhen und Fragen über Fragen stellen zu können?«
    Raphaela war erstaunt. Sie hatte stets nur Ausschau gehalten nach einem Etwas, das ihrem Leben Halt und Sinn gibt. Pater Montesi sprach aber von einem Jemand, wenn er von Jesus sprach.
    »Kommen Sie, wir setzen uns. Ich kann nicht mehr so lange stehen.« Montesi führte seine schöne Besucherin zu der Bank vor dem Haus, auf der sie schon einmal gesessen hatten.
    Nachdem sie dort eine Weile schweigend den Ausblick und den Frieden genossen hatten, ergriff Raphaela fast zögerlich das Wort. »Warum haben Sie mich kommen lassen? Sie machten so eigenartige Andeutungen in Ihrem Brief.« Dann schaute sie ihn von der Seite an. Montesi war ein in sich zusammengesunkener, einfacher Mann in verschlissener Kutte – und doch hatte er Größe. Wahre Größe und Adel, die ihm verliehen worden waren.
    »Ihr letzter Besuch galt dem Aufklären eines abscheulichen Verbrechens und dem Auffinden der sogenannten ›Heiligen Lanze‹.« Raphaela nickte still. »Ich überlegte damals, was Ihnen persönlich wichtiger war: den Mann zu finden, der die Morde begangen hatte, oder die Lanze. Und ich vermutete, dass es Ihnen vor allem darum ging, diese Reliquie zu finden.«
    Raphaela widersprach ihm nicht. »Was ist denn falsch daran, nach etwas zu suchen, woran man sich klammern kann? Das tun doch alle auf die eine oder andere Weise.« Montesi lächelte sie an. »Daran ist gar nichts falsch, mein Kind. Im Gegenteil. Genau das ist Gottes Vakuum, etwas, das in uns angelegt wurde und gefüllt werden möchte. Seitdem sich der Mensch vor vielen Tausend Jahren von Gott abgewandt hat, ist er auf der Suche nach seiner Bestimmung, nach dem, was ihn wieder ausfüllen kann.«
    »Davon sind aber doch religiöse Leute nicht ausgenommen«, protestierte sie.
    »Ganz und gar nicht. Religion bedeutet nicht zwangsläufig, schon am Ziel oder gar auf dem richtigen Weg zu sein.« Raphaela schaute den Pater fragend an. Der fuhr fort: »Sehen Sie sich den religiösen
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