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Hotel van Gogh

Hotel van Gogh

Titel: Hotel van Gogh
Autoren: J.R. Bechtle
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Georges-Albert Aurier, der bedeutendste Pariser Kunstkritiker, kürzlich einen Artikel, der an Begeisterung nichts zu wünschen übrig ließ. Aber Vincent wies diese öffentliche Auszeichnung zurück, das Lob gebühre anderen, Künstlern wie Gauguin. Im tiefsten Inneren fürchtete er sich vor dem Erfolg. Es war nie leicht gewesen, es ihm recht zu machen. Aber den Durchbruch sieht Theo nun zum Greifen nah. Und dann dieser Akt des Wahnsinns!
    Nach einer Stunde erreicht der Zug Auvers. Theo rüttelt Hirschig wach. Während der Fahrt durch die sonnendurchfluteten Felder hatte dem Geschehen immer noch etwas Unwirkliches angehaftet. Aber als er die einsame Gestalt von Dr. Gachet auf dem Bahnsteig sieht, weiß er, dass alles so ist, wie es Hirschig geschildert hat. Und dass keine Hoffnung mehr besteht.
    Auch Dr. Gachet macht einen übermüdeten Eindruck. Sein Gesicht ist fahl, keine Spur der Lebensfreude, die er sonst ausstrahlt. Alles an ihm wirkt grau. Er ist fast doppelt so alt wie Vincent. Sein Arzt und gleichzeitig sein bester Freund hier in Auvers. Dr. Gachet leide ebenfalls an einer Nervenkrankheit, er sei mindestens so verrückt wie er selbst, hatte Vincent Theo nach seiner ersten Begegnung mit dem Arzt geschrieben. Nach einigen Wochen in seiner Behandlung hatte Gachet Vincent für gesund erklärt. Natürlich musste ein Verrückter einem anderen Verrückten als normal erscheinen. Wie konnte er seinen Bruder nur diesem Arzt anvertrauen!
    »Ich bin froh, dass Sie sofort gekommen sind. Es steht nicht gut um Herrn Vincent.«
    »Aber er lebt?«
    »Er liegt auf seinem Bett und raucht. Die Kugel lässt sich nicht entfernen, der Eingriff wäre zu riskant und ohne jede Aussicht auf Erfolg.«
    »Konnte man die Krise nicht voraussehen?«
    »Er litt in letzter Zeit unter Gemütsschwankungen, aber ich glaube nicht, dass er im Wahn gehandelt hat.«
    »Wie ist mein Bruder überhaupt an die Pistole gekommen?«
    »Als er am vergangenen Wochenende zum Mittagessen kam, trug er die Pistole bereits bei sich. Ich hätte natürlich etwas unternehmen sollen. Im Nachhinein ist man immer klüger.«
    Nach kurzer Fahrt auf der holprigen Landstraße erreichen sie das in der Dorfmitte von Auvers gelegene Gasthaus Ravoux. Vorbei an den zum Teil bereits abgeernteten Weizenfeldern, die Vincent in den verschiedensten Stimmungen gemalt hat, bis sich in den letzten Arbeiten unvermittelt sein strahlendes Gelb in ein trauriges und unheilvolles Gelb wandelte.
    Als habe er damit alles gesagt, denkt Theo, als habe er jede Farbe und jede Stimmung erfasst. Als gebe es nichts mehr hinzuzufügen. Die Felder abgeerntet, der Kreis hat sich geschlossen.
    Für jede Handlung gibt es eine Erklärung. Aber als er aus dem grellen Sommerlicht draußen in das Dunkel des Gastraums tritt, schwindet auch die letzte Zuversicht. Die Gespräche verstummen, alle Augen richten sich auf ihn.
    Theo trägt seine Pariser Bürokleidung. Sein Anzug ist verschwitzt. Er fühlt sich elend und schwach. Mit seiner eigenen Gesundheit steht es nicht zum Besten, aber wer kümmert sich schon um ihn?
    Wenn das Ganze nur schon ausgestanden und es mit ihm endgültig vorbei wäre!
    Theo erschrickt, als er sich bei diesem Gedanken ertappt. Schuldbewusst blickt er in die stummen Gesichter und die gesenkten Köpfe, bevor er die ausgetretene Holztreppe nach oben zu der Mansarde steigt, in der sein Bruder liegt.
    Theo kennt die Dachkammer von einem früheren Besuch, die Armseligkeit, die ihn dort erwartet, ist erschreckend. Er ist auf alles vorbereitet. Doch als er die Tür aufstößt, prallt ihm der Gestank wie von einem verwesenden Tier entgegen. Es ist unerträglich heiß, das Fenster in der Dachluke geschlossen. Seine Knie wanken, er muss sich am Türrahmen festhalten.
    Vincent liegt auf dem Rücken, den Körper gekrümmt, vielleicht um den Druck auf die Schusswunde in seiner linken Seite zu mindern. Er starrt vor sich hin ins Leere. Aber als er Theo erkennt, entspannt sich sein Gesicht. Theo kämpft gegen seine Tränen. Vor ihm sein großer Bruder, eingezwängt in dem für seinen schweren Körper viel zu engen Holzbett. Tatsächlich macht er einen besseren Eindruck, als Theo nach den Schilderungen von Hirschig und Dr. Gachet erwartet hatte.
    »Theo, um Himmels willen, wie siehst du aus? Als predigte ich dir nicht schon seit Ewigkeiten, dass dieses verfluchte Paris nichts für dich ist. Du brauchst die Natur! Du und ich, wir sind Landmenschen, wir sind nicht für das Leben in der Großstadt
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