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Hoppe

Hoppe

Titel: Hoppe
Autoren: Felicitas Hoppe
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Familie in der deutschen Provinz, von Geschwistern, die aus dem Stegreif vierstimmig singen, achthändig Klavier spielen (»schneller als Wayne übers Eis läuft«), und denen sie angeblich täglich Briefe schreibt. Von einer Mutter, die leichthändig Pucks (vermutlich Buletten) in Pfannen wirft, von einem Vater, der Kaspertheater baut, und von einem zweiten (»Entführervater«), der angeblich nicht der eigene ist, sondern sie vor Jahren »mit einem Schmetterlingsnetz vom Schulweg wegfing« und »auf ein Schiff nach Ontario verschleppte, um nicht länger einsam zu sein«.
    Bereits hier wird Hoppes früher Hang zum Drama überdeutlich. Waynes Mutter Phyllis, mit Kindernöten und Ungereimtheiten von Grund auf vertraut, verzichtet auf faktische Korrekturen und pariert Felicitas’ Geschichten so instinktsicher wie tröstlich mit einer folgenreichen Neuschöpfung der Geschichte vom Rattenfänger: »Dann kommst du also aus Hameln und bist tatsächlich ein Glückskind«, sagte sie (und füllte die Teller), »aus der Stadt des berühmten Rattenfängers, der alle Ratten der Welt im Schlaf erlegt, jede ein Treffer, und den keiner für seine Patente bezahlt, weshalb er beschließt, die Stadt zu verlassen. Klar, dass er nur die Besten mitnimmt und das sind, natürlich, die Kinder. Ein großer Tag, das könnt ihr mir glauben (an dieser Stelle hebt Phyllis enthusiastisch die Stimme), kein Kind steht beiseite, alles steht Schlange vor dem großen Berg, in dem sie wenig später für immer verschwinden. Aber (Phyllis füllt nach) sie sind natürlich gar nicht verschwunden, sondern unterirdisch weitergewandert, bis sie am anderen Ende des Berges ein großes und strahlendes Licht sehen. Und, Kinder!, was soll ich euch sagen: Da stehen sie plötzlich in Kanada, auf frisch poliertem Eis, lauter glänzende Gesichter, gleich um die Ecke hinter unserem Haus. Damit hatte natürlich keiner gerechnet. Wie groß die Freude war, könnt ihr euch denken. Und das alles haben sie dem Rattenfänger zu verdanken. Denn hätte der sie nicht mitgenommen, säßen sie bis heute in Hameln und wüssten nichts mit sich anzufangen.«
    Es ist also Phyllis Gretzky gewesen, die den Rattenfänger von Hameln erfand und Hoppe, die die Geschichte nicht kannte, damit das passende Stichwort gab, um zum Vorbild für jene über alles geliebte Hamelner Gastgeberkönigin zu werden, von der Hoppe nur träumt und die sie, im Gegensatz zu Walter, der unaufhörlich Sieg und Erfolge predigte, wohlwollend darauf aufmerksam machte, »dass das kanadische Eis dicker ist als das deutsche, auch für Anfänger leicht befahrbar« und dass »Ausrutschen nicht gleich Einbrechen ist«, während Walters unbarmherzige Devise lautete: »Let them always feel the uncertain ground they are skating.« (»Wir spielen alle auf dünnem Eis!«) Aber weil Phyllis mehr Mutter als Erzieherin war, »krönte sie selbst die schrecklichsten Niederlagen ausdrücklich mit Sahne, und dafür liebte ich sie«, schreibt Hoppe Jahrzehnte später in einem Entwurf zu einer ersten Autobiographie, den sie später entschieden und mit einem für sie typischen Kommentar verwirft: »Als Leben einfach zu kurz.«
     
    Der Rattenfänger allerdings ist seit jenem Winterabend in Gretzkys Küche unwiderruflich in der Welt und bleibt Hoppes so treuer wie vertrackter Begleiter, literarischer Basso continuo über mehr als vier Jahrzehnte. Kaum ein Text im Werk, in dem, offen oder verdeckt, »der verdächtige Spielmann« keine Erwähnung findet. Ob Hoppe die Glocken am berühmten Hamelner Hochzeitshaus, über die sie in Ontario so kindlich wie enthusiastisch schreibt: »Zu ihrem Klang würde ich sogar Wayne heiraten, obwohl ich genau weiß, dass er mich niemals heiraten wird«, jemals mit eigenen Ohren gehört hat, ist bis heute ungeklärt. Zwar ist ihr Werk vollgestopft mit Anspielungen auf ihre vermeintliche Geburtsstadt, die Beschreibungen der Stadt und ihrer Umgebung aber bleiben durchgehend allgemein und vage. An keiner Stelle lässt sich ausmachen, ob sie tatsächlich auf eigener Erfahrung beruhen oder nicht doch nur angelesen sind.
    Man tappt hier vor allem deshalb im Dunkeln, weil der Charakter des Angelesenen ein insgesamt prägendes Element in Hoppes Werk ist, das auch in jenen Arbeiten deutlich hervortritt, in denen sie über Orte, Länder und Gegenden schreibt, die sie nicht nur nachweislich selbst besucht, sondern in denen sie sogar ganze Jahre ihres Lebens verbracht hat. Und weil sie die Frage nach Authentizität
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