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Homicide

Homicide

Titel: Homicide
Autoren: David Simon
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Bewährung ausgesetzt wird.
    Wenn Staatsanwalt und Verteidiger nicht schon vor dem Prozess zu einer Einigung finden, wenn die Klage nicht abgewiesen oder das Verfahren nicht für unbestimmte Zeit aufs Abstellgleis geschoben wird, wenn der Fall durch irgendeine verrückte Wendung des Schicksals tatsächlich vor Gericht kommt, dann hast du die Gelegenheit, im Zeugenstand zu sitzen und unter Eid die Fakten darzulegen – ein kurzer Augenblick im Rampenlicht, der aber rasch vom Auftritt des schon erwähnten Verteidigers in den Schatten gestellt wird. Denn der wird dir im schlimmsten Fall vorwerfen, dich mit einem Meineid einer schweren Straftat schuldig zu machen oder, im besten Fall, derart schlampig ermittelt zu haben, dass der wahre Täter noch immer frei herumläuft.
    Sobald sich beide Seiten lautstark die Fakten des Falls um die Ohren gehauen haben, wird sich eine Jury aus zwölf Männern und Frauen, die aus der Computerliste der registrierten Wähler einer der Städte mit dem niedrigsten Bildungsstand Amerikas ausgewählt wurden, in einen Raum begeben und beginnen, sich ihrerseits anzuschreien. Wenn es diesen Glücklichen gelingt, den natürlichen Impuls zu überwinden, keine gemeinschaftliche Entscheidung zu treffen, werden sie vielleicht einen Menschen für schuldig befinden, einen anderen Menschen ermordet zu haben. Dann kannst du in Cher’s Pub an der Lexington und Guilford gehen, wo dir der besagte stellvertretende Staatsanwalt, sofern er über menschliche Qualitäten verfügt, ein Bier ausgibt.
    Und du trinkst es. Denn in einer Polizeibehörde mit zirka dreitausend vereidigten Cops gehörst du zu den sechsunddreißig, die mit der Verfolgung des schlimmsten Verbrechens überhaupt beauftragt sind: dem Raub eines Menschenlebens. Du bist die Stimme der Toten. Der Rächer der Verschiedenen. Dein Gehaltscheck kommt vielleicht von der Stadtverwaltung, aber, verdammt, nach sechs Bier glaubst du irgendwann selbst, dass du eigentlich im Dienst des Herrn unterwegs bist. Wenn du den Erwartungen nicht gerecht wirst, bist du nach ein, zwei Jahren wieder draußen, versetzt zur Fahndung, zum Autodiebstahl oder Betrug am anderen Ende des Flurs. Kommst du aber einigermaßen zurecht, kannst du als Cop nirgends sonst eine wichtigere Aufgabe übernehmen. Das Morddezernat ist die Oberliga, die ganz großeArena, die wahre Show. So war es schon immer. Als Kain seinen Bruder Abel um die Ecke brachte, glauben Sie bloß nicht, dass der Alte da oben ein paar uniformierte Grünschnäbel zu den Ermittlungen schickte. Verdammt, nein, er holte einen Detective. Und so wird es auch immer bleiben, denn das Morddezernat jeder großstädtischen Polizei ist seit Menschengedenken das natürliche Habitat einer ganz seltenen Spezies: das des denkenden Cop.
    Es erfordert mehr als einen akademischen Abschluss, eine Spezialausbildung oder Buchwissen, denn keine Theorie der Welt hilft einem, wenn das Entscheidende fehlt: das Gefühl für die Straße. Aber damit nicht genug. Auf jedem Revier in den Ghettos gibt es ältere Streifenpolizisten, die genauso viel wissen wie ein Mordermittler und trotzdem ihre Tage in schäbigen Funkwagen zubringen, ihre Schlachten in Acht-Stunden-Etappen austragen und sich gedanklich nur bis zum nächsten Schichtwechsel mit einem Fall befassen. Ein guter Detective beginnt als guter Streifenpolizist, als Schutzmann, der jahrelang Kreuzungen frei- und Autos anhält, prügelnde Ehemänner zur Räson bringt und die Liefertore von Lagerhäusern überprüft, bis das Leben der Stadt zu seiner zweiten Natur geworden ist. Dann wird der Detective in Zivil gesteckt und weiter geschliffen, indem er ausreichend lange im Dezernat für Diebstahl oder Drogen oder Autodiebstahl arbeitet, bis er weiß, wie er eine Überwachung durchführt, wie er einen Informanten benutzt, ohne von ihm benutzt zu werden, und wie er einen schlüssigen Antrag für Durchsuchungs- und Haftbefehle ausfüllt. Natürlich gibt es auch Schulungen, die ihm solide Grundlagen in Forensik, Rechtsmedizin, Strafrecht, in der Bestimmung von Fingerabdrücken, Fasern und Blutgruppen, in Ballistik und DNA-Analyse vermitteln. Ein guter Detective muss sich außerdem so viele Fakten aus den Polizeiarchiven merken können – über Festnahmen, Gefängnisstrafen, Waffenscheine, Fahrzeuge –, dass er einem Computer Konkurrenz machen könnte. Und trotzdem hat ein guter Mordermittler noch etwas mehr, etwas, das er so verinnerlicht hat und das ihm so zur zweiten Natur geworden ist wie
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