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Holunderküsschen (German Edition)

Holunderküsschen (German Edition)

Titel: Holunderküsschen (German Edition)
Autoren: Martina Gercke
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auf meinen Kopf. Immer wieder. Mühsam öffne ich die Augen, brauche einen Augenblick, um mich zurechtzufinden. Erstaunt registriere ich, dass ich es geschafft habe, einzuschlafen. Da nehme ich wochenlang Schlaftabletten, und dann fallen mir die Augen zu, obwohl es regnet, kalt ist und mein ganzer Körper ein einziger Schmerz zu sein scheint.
    Mein Blick fällt auf die kümmerliche Grube, die ich ausgehoben habe. Wie soll ich nur den Rest schaffen, so wie ich mich fühle? Seufzend rappele ich mich hoch. Es hilft nichts. Wenn ich nicht im Gefängnis landen will, muss ich jetzt weitermachen.
    Zum Glück hat der Regen nachgelassen, und der Vollmond wirft ein helles, milchiges Licht auf den Garten, das mir zu sehen erlaubt, was ich tue. Groß und schwer hängt der Mond am Himmel und leistet mir Gesellschaft. Doch dann wird es plötzlich dunkel, Wolkenfetzen verdecken die weiße Scheibe, die eben noch mein Freund war, und ein heftiger Wind kommt auf. Blätter rauschen. Ein Zweig knackt. Hinter mir wispert es.
    Was war das? Der Schreck umklammert mein Herz wie eine eiserne Faust. Ich halte inne. Lausche. Ist da jemand? Angestrengt versuche ich, in der matten Dämmerung etwas zu erkennen.
    Wieder knackt ein Ast. Es raschelt. Mit einem Mal geht mein Atem nur noch stoßweise, ein unwillkommener Gedanke rumort in meinem Kopf: Ich bin ganz allein mit einer Leiche.
    Würde mich nicht wundern, wenn der Geist des Ermordeten umgeht und wütend ist, weil ich seinen Körper einfach verscharren will, anstatt für Gerechtigkeit zu sorgen. Ein kalter Schauer rieselt meinen Rücken hinab. Etwas Glitschiges streift meinen Arm, und ich mache einen Satz nach hinten, komme an den Rand der Grube und muss um meine Balance kämpfen. Und dann höre ich einen erstickten Schrei.
     
    Sekunden später hocke ich neben dem Grab auf dem Boden und versuche, mich wieder zu beruhigen. Ich brauchte eine Weile, um zu merken, dass ich es war, die geschrien hat. Nichts ist passiert. Es ist nichts geschehen. Gar nichts . Wenn ich mir das lange genug einrede, glaube ich es vielleicht sogar.
    Langsam, sehr langsam, fühle ich mich besser. Es war nur der Wind. Das ist alles. Ein Blatt des Strauches, neben dem ich eben noch gestanden habe, hat mich am Arm gestreift.
    Mit einem tiefen Atemzug stehe ich auf, greife erneut die Schaufel. Es reicht! Ich werde jetzt diese verflixte Leiche verscharren und dann mit meinem Leben weitermachen.
     
    Irgendwann ist das Loch tief genug. Mit einem erleichterten Seufzer lasse ich die Schaufel auf den Boden fallen und schleife den Toten die wenigen Meter von seinem Platz unter den Bäumen bis zur Grube herüber.
    Und dann stehe ich unschlüssig da und starre auf die Plastikplane. Jetzt ist es soweit, ich muss das tun, wovor ich mich die ganze Zeit gedrückt habe. Ich muss ihn begraben, aber zuvor gibt es noch eine weitere Aufgabe zu bewältigen: Ich muss ihn durchsuchen. Vielleicht finde ich einen Hinweis auf seine Identität.
    Zum hundertsten Mal an diesem Tag wünsche ich, weit weg zu sein.
    Dann aber gehe ich daran, ihn von der Plane zu befreien, bis sein Körper vor mir liegt. Zaghaft klopfe ich seine Taschen ab. Nichts. Sie scheinen leer zu sein. Jetzt könnte ich ihn wieder einwickeln und …
    Nein. Ich muss Gewissheit haben.
    Mit zusammengebissenen Zähnen lange ich in eine Jackentasche hinein, dann in die andere. Auch die Hosentaschen durchsuche ich. Aber ich finde nichts. Also dann werde ich ihn jetzt beerdigen … Und damit endgültig etwas tun, was nicht richtig ist.
     
    Dieser Gedanke lässt mich innehalten. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich meinen Plan in die Tat umsetzen soll. Ob es nicht eine andere Lösung gibt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass selbst der beste Anwalt mich aus dieser verfahrenen Situation herauspauken könnte. Zu viele Beweise sprechen gegen mich.
    Ein eisiger Luftstoß fegt durch den Garten und lässt mich erschauern. Mir ist kalt. Meine Klamotten sind durchweicht und kleben an meinem Körper. Es regnet noch immer. Fast scheint es, als ob das Wetter um den Verstorbenen trauere. Was vielleicht ganz gut ist, wenn man bedenkt, dass der Tote sonst niemanden hat, der diesem Begräbnis beiwohnt. Von mir natürlich abgesehen, allerdings bewegen mich eindeutig andere Gründe als einen trauernden Hinterbliebenen.
    In Gedanken entschuldige ich mich bei dem Mann dafür, dass ich ihn gleich unzeremoniell in ein provisorisches Grab stoßen werde. Ich mache es wieder gut. Ganz bestimmt .
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