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Holunderküsschen (German Edition)

Holunderküsschen (German Edition)

Titel: Holunderküsschen (German Edition)
Autoren: Martina Gercke
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Brieftasche dabei. Möglicherweise wüsste ich dann schon, wer er war. Bei dem Gedanken daran, in der Kleidung einer Leiche herumzuwühlen, breitet sich ein mulmiges Gefühl in meinem Magen aus. Hastig stehe ich auf und bezahle meine Rechnung an der Theke, anstatt auf die Bedienung zu warten. Hier drin wird es mir zu eng. Ich muss raus, weg von hier.
     
    Es regnet, als ich aus dem Café komme und mich auf den Weg ins Parkhaus mache. Hier unten ist es düster und unheimlich. Zumindest, wenn man einen Tag wie ich hinter sich hat. Mit gesenktem Kopf schlängele ich mich zwischen den Autos durch, trete auf den schmalen Weg, der eine Parkreihe von der anderen trennt, als ein gellendes Quietschen ertönt. Irgendein Idiot denkt wohl, hier sei der richtige Platz für ein Autorennen.
    Die Geräusche kommen näher. Schnell überquere ich die schmale Gasse, um zu meinem Wagen zu gelangen. Möglichst bevor der Möchtegern-Rennfahrer mich mit seinen Abgasen umbringt. Das Motorengeräusch wird lauter. Beunruhigt schaue ich mich um. Starre direkt in die Scheinwerfer eines schwarzen BMWs, der, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern, auf mich zurast.
    Jetzt weiß ich, warum sich Rehe nie bewegen, wenn sie im Scheinwerferlicht gefangen sind.

7
     
    Mit einem heftigen Ruck werde ich zur Seite gerissen. Der BMW rast so dicht an mir vorbei, dass er mich fast gestreift hätte.
    „Saukerl, dreckerter!“
    Zitternd drehe ich mich um. Ein gut aussehender, älterer Herr lächelt mich an. „Da haben Sie noch einmal Glück gehabt, Fräulein. Diese jungen Leut heutzutage.“ Er schüttelt den Kopf. „Kaum haben sie den Führerschein, schon denken sie, sie wären Michael Schumacher.“
    „Danke, vielen Dank“, stammele ich, noch immer unter Schock. Zum Glück redet er hochdeutsch mit mir. Sonst hätte ich wahrscheinlich kein Wort verstanden. Dieser ironische Gedanke lässt ein hysterisches Lachen in meiner Kehle aufsteigen. Hastig dränge ich es zurück. Wenn ich jetzt zu lachen anfange, werde ich nicht mehr aufhören. Wird mich die Hysterie ganz packen.
    „Keine Ursache.“ Mit diesen Worten tippt er sich an den Hut, er trägt tatsächlich einen Gamsbart mitten in Frankfurt, und geht davon.
    Ich stehe noch immer neben den Autos und versuche, tief durchzuatmen, obwohl mein Brustkasten wie eingeschnürt ist. Es ist ein Gefühl, als würde ich ein Stahlkorsett tragen. Wieder versuche ich, Luft zu holen. Besser. Langsam geht es besser. Mittlerweile habe ich ja auch Übung darin.
    Der Mann hatte sicherlich recht. Bestimmt war es irgendein Halbstarker, der Formel-1-Pilot spielen wollte und mich nicht gesehen hat.
    Wenn ich die Augen schließe, kann ich das Gesicht des Fahrers vor mir sehen. Dunkle Haare, Sonnenbrille, mindestens 35 Jahre alt. Nicht gerade jung. Trotzdem, niemand will mich umbringen. Ganz bestimmt nicht.
     
    Ein leichter Sprühregen hat einen nebligen Schleier über den Garten gelegt. Von den Ästen der Trauerweide tropft es auf mich herab, als ich einige Stunden später den Boden mustere und wünschte, ich könnte stattdessen mit einem dicken Schmöker im Bett liegen. Aber daraus wird nichts. Schließlich muss ich einen Toten vergraben.
    Ohne große Begeisterung fange ich mit der Arbeit an. Die Erde ist nass und schwer, Regenwürmer winden sich auf den Brocken, die ich mit der Schaufel aushebe. Es dauert keine zehn Minuten und ich bin erschöpft, mein Rücken ein Flammenmeer. Dabei habe ich gerade erst angefangen. Das markierte Rechteck ist nur um wenige Zentimeter tiefer geworden.
    Am liebsten würde ich die Schaufel hinwerfen und mich heulend ins Bett verkriechen. Das ist der schlimmste Tag meines Lebens, und er ist noch lange nicht zu Ende. Ich muss mich zusammenreißen. Für Selbstmitleid bleibt später noch genug Zeit, ermahne ich mich. Ich werde solange weiterarbeiten, bis das Loch fertig ist. Ich werde an nichts denken, mich durch nichts ablenken lassen. Durch gar nichts! Ich werde so lange graben, wie es nur geht, und diese gruselige Arbeit hinter mich bringen.
    Irgendwann kann ich nicht mehr, da hilft alles Zureden nichts. Ich bin vollkommen erschöpft. Jede Schaufel Erde, die ich aushebe, scheint Tonnen zu wiegen, und ich schaffe es kaum noch, die Erdbrocken auf die Seite zu kippen. Mit einem lauten Stöhnen werfe ich den Spaten hin, wanke zu dem dicken Stamm der Trauerweide und lasse mich daran zu Boden gleiten.
    Ich brauche eine Pause. Nur ein paar Minuten, dann kann ich weitermachen …
     
    Etwas Nasses tropft
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