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Hogan, S: Steampunk-Saga: Episode 2

Hogan, S: Steampunk-Saga: Episode 2

Titel: Hogan, S: Steampunk-Saga: Episode 2
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durchschauen konnte. Noch nicht einmal sie selbst, obwohl sie schon seit vielen Jahren seine treueste Dienerin war. Nein, die Vampirin hatte keinen blassen Schimmer, was in Merrick Grims Kopf vor sich ging. Und diese Tatsache trug nicht dazu bei, ihre Laune zu verbessern. Vespasia lief unruhig in dem eleganten Salon des verschwiegenen Hauses in Mayfair auf und ab. Merrick Grim ignorierte sie völlig und beugte sich über sein Schachbrett. Endlich brach er das Schweigen, schaute Vespasia aber immer noch nicht an.
    „Ich habe hier ein interessantes Schachproblem, meine Teure. Die Aufgabe lautet: Matt in neun Zügen. Wie du siehst, habe ich die weißen Figuren. Und ich musste sie alle opfern, um mit meinem letzten Bauern den schwarzen König mattsetzen zu können.“
    Vespasia war dem Sippenanführer gegenüber loyal, aber in diesem Moment konnte sie sich eine Frechheit nicht verkneifen. „Wie schön, dass Sie ein Schachproblem lösen, während unsere Getreuen von der verfluchten Bruderschaft abgeschlachtet werden!“
    Merrick Grim blickte auf und bedachte die Vampirin mit einem eiskalten Lächeln.
    „Du solltest wirklich Schach spielen lernen, liebste Vespasia. Dadurch werden der Verstand und die Konzentration geschult. Hast du schon einmal von einem Bauernopfer gehört? Beim Schach opfert man oftmals eine unbedeutende Figur, um ein wichtiges Ziel zu erreichen. Ich habe soeben alle meine Schachfiguren über die Klinge springen lassen, um den schwarzen König zu erledigen.“
    Vespasia seufzte. Sie musste sich wieder einmal eingestehen, dass sie den Gedanken ihres Meisters nicht folgen konnte. Aber gerade darum verehrte sie ihn so sehr. Wieder einmal schweiften ihre Gedanken ab. Sie erinnerte sich an die Nacht, während der ihr Gebieter sie zur Blutsaugerin gemacht hatte. Obwohl es schon 388 Jahre her war, kam es Vespasia oft so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Zu frisch war die Erinnerung an jene Ereignisse.
    Im Jahre des Herrn 1463 war Vespasia ein junges und soeben zu vollster Schönheit erblühtes Edelfräulein gewesen. Sie lebte im Landhaus ihres Vaters, des Earl of Tarnsbroke. Das Land erholte sich allmählich von den zurückliegenden Bürgerkriegen zwischen rivalisierenden Adelshäusern. Aber nun saß Eduard IV. aus dem Hause York fest auf dem englischen Königsthron. Vespasia sollte Roger heiraten, den ersten Sohn des Earl of Glouchester.
    Am Abend vor ihrer Vermählung hatte Vespasia in ihren Gemächern gesessen und sich von ihrer Zofe das Haar bürsten lassen. Sie blickte in den kostbaren Spiegel, den ihr Vater für sie von einem renommierten Glasbläser hatte herstellen lassen.
    „Wo bleibst du denn, Mary?“ Vespasias Stimme hatte ungeduldig geklungen. Ihre Zofe sollte eine feinere Bürste holen, um dem Haar eine noch größere Geschmeidigkeit zu verleihen. Die Bedienstete war hinter einem Vorhang verschwunden. Aus weiter entfernten Teilen des Landhauses klangen die betrunkenen Stimmen ihres Vaters und seiner Männer zu ihr nach oben. Es war natürlich für eine junge Lady nicht statthaft, an einem solchen wilden Gelage teilzunehmen. Am Abend vor ihrer geplanten Vermählung war es vollends undenkbar.
    Aber Vespasia war damals ohnehin noch sehr zurückhaltend gewesen. Obwohl sie bereits zweiundzwanzig Lenze zählte, verfügte sie über wenig mehr Lebenserfahrung als ein kleines Kind. Das lag daran, dass ihr Vater sie wie seinen Augapfel hütete.
    Kaum jemals durfte sie das Landhaus überhaupt verlassen. Die jetzige Vampirin führte sich vor Augen, wie unbedarft sie damals noch gewesen war. Lediglich ihrer Zofe gegenüber trat sie schon im Jahre 1463 selbstherrlich und arrogant auf. Vespasia war eben so erzogen worden, dass sie ihre Dienerin nicht als einen gleichwertigen Menschen ansehen konnte. Deshalb hatte sie kaum jemals ein gutes Wort für ihre treue Zofe übrig.
    „Mary, du faules Ding! Wenn du nicht sofort mit der feineren Bürste kommst, dann lasse ich dich peitschen. Hast du mich verstanden?“
    Eine Antwort bekam Vespasia nicht. Sie wurde allmählich wütend. Unwillig zog sie ihre fein geschwungenen Augenbrauen zusammen und drehte den Kopf in Richtung des Vorhangs, hinter dem ihre Zofe verschwunden war.
    Der jungen Adligen stockte der Atem. Denn unter dem Saum des schweren Tuchstücks floss Blut hervor. Vespasia hatte in einer gewalttätigen Zeit gelebt. Allerdings kannte sie die grausamen Kämpfe, in die ihr Vater und seine Mannen verstrickt gewesen waren, nur aus Erzählungen. Auch die
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