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Hörig (German Edition)

Hörig (German Edition)

Titel: Hörig (German Edition)
Autoren: Petra Hammesfahr
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– sagte ihre Schwester.
    Dorothea hatte dem prüden Elternhaus schon vor der Schwangerschaft den Rücken gekehrt und war völlig frei in ihren Entscheidungen. Kurz vor der Geburt ihrer Tochter zog sie aus ihrem kleinen Apartment in eine Wohngemeinschaft. Dort lebten schon drei junge Mütter, die sich wechselseitig um die Kinder kümmerten, damit alle arbeiten oder studieren konnten.
    «Das geht reihum», sagte Dorothea einmal. «Wer frei hat, ist eben dran mit Kinderhüten, einkaufen oder Wäsche waschen.»
    Für ihre Schwester war es die optimale Lösung. Für sie dagegen wurde alles noch schlimmer. Es hatte auch vorher nicht allzu viel Zärtlichkeit im Elternhaus gegeben. Nun gab es gar keine mehr, nur noch Verbote, Misstrauen und Vorwürfe.
    Wie oft hatte sie gefragt: «Darf ich am Sonntagnachmittag nach Köln fahren, Papa? Ein paar Mädchen aus meiner Klasse wollen ins Kino. Ich würde gerne mitgehen.»
    Jedes Mal sagte er: «Mal sehen.»
    «Bitte, Papa. Es läuft ein toller Film.»
    «Mal sehen.»
    Die ganze Woche wurde sie hingehalten. Und sonntags sagte er dann: «Wenn du mich gerade so drängst, muss ich annehmen, dass du nicht mit ein paar Mädchen ins Kino willst, sondern mit einem jungen Mann. Mit wem denn? Mit einem von diesen Burschen, mit denen man viel Spaß haben kann? Meinst du nicht, dafür wäre es bei dir noch ein bisschen zu früh?»
    Natürlich war es das. Als Dorothea ihre Tochter bekam, war Patrizia gerade erst fünfzehn geworden. Aber auch mit sechzehn und siebzehn wurde ihr noch alles verboten. Von den Mädchen in ihrer Berufsschulklasse hatten viele schon den zweiten oder dritten Freund. Sie hatte nur Schwärmereien und ihre Phantasie. Alles durfte nur in Gedanken geschehen. Und diese Gedanken lösten einen gehörigen Kitzel aus.
    Vielleicht kam Heiko Schramm nur im richtigen Augenblick, in einem der wenigen Momente gestohlener Freiheit, die Dorothea ihr hin und wieder ermöglichte, seit sie siebzehn war. Babysitten am Samstagabend hieß es offiziell, weil die jungen Mütter in der Wohngemeinschaft angeblich hin und wieder zusammen auf eine Bowlingbahn gingen. In Wirklichkeit zog es sie in Discotheken. Natürlich nicht alle auf einmal, mindestens eine blieb daheim bei den Kindern. An deren Stelle durfte manchmal sie mit. Und keine der Frauen kümmerte sich um sie oder um das, was sie tat.
    Sie tat auch nichts, stand nur am Rand der Tanzfläche, weil sie sich nicht in die zappelige, schwitzende Menge hineinwagte. Ihr reichte es, von blauviolett oder rötlich wabernden, fluoreszierenden Schwaden umhüllt und von hämmernden Bässen zugedröhnt zu werden. Sie liebte diesen Krach, weil er daheim verboten war wie alles andere. Dabei machte er den Kopf frei, machte zittrig, beschwipst und benommen, sodass sie schwankte, ohne einen Tropfen Alkohol getrunken zu haben.
    An so einem Abend tauchte Heiko Schramm wie ein Geist aus dem Nebel hinter ihr auf. Zuerst roch sie ihn nur. Die großen Lautsprecher wirkten wie Schleifsteine, machten alle Sinne scharf – fast alle, den sechsten wohl kaum, aber die anderen fünf.
    Es war der herbe Geruch seines Rasierwassers vermischt mit Zigarettenrauch, der sie veranlasste, sich umzudrehen. Und da stand er: von Kopf bis Fuß so schwarz wie die Nacht, über Gesicht und Hände huschten geisterhaft irisierend die blauvioletten und roten Lichter, die auch den Nebel auf der Tanzfläche färbten.
    Er sah aus wie der leibhaftige schwarze Mann, vor dem es sie als kleines Kind so herrlich gegraust hatte, wenn ihre Mutter erzählte, wie er nachts durch die Straßen schlich und all die kleinen Mädchen mitnahm, die nicht in ihren Betten lagen.
    «Und was tut der schwarze Mann mit den kleinen Mädchen?» Auf diese Frage hatte sie von ihrer Mutter nie eine Antwort bekommen. Dorothea hatte einmal gesagt: «Er vernascht sie.»
    Danach hatte sie sich eine Zeitlang einen Menschenfresser vorgestellt, für den kleine Mädchen wie Süßigkeiten waren. Und wenn ihre Mutter das Licht ausmachte und die Tür hinter sich zuzog, wenn es stockdunkel wurde im Zimmer und der einzig sichere Platz auf der Welt unter der Bettdecke war, dann hatte sie den schwarzen Mann um das Haus herumschleichen hören.
    Manchmal war er in den Baum gestiegen, der so nahe bei ihrem Fenster stand, dass er Jahre später gefällt werden musste. Von diesem Baum aus hatte der schwarze Mann die ganze Nacht hindurch in ihr Zimmer geschaut und darauf gewartet, dass sie aus dem Bett stieg, damit er sie schnappen
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