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Hoellentrip

Hoellentrip

Titel: Hoellentrip
Autoren: Manuela Martini
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unterstrichen ihre langen Läuferinnenbeine und passten zu ihrem kurzen Sommerkleid mit den feinen Querstreifen in oliv, orange und weiß.
    „Hi, Joanna, er hat schon nach dir gefragt!“, rief ihr Schwester Patricia-Mae zu. Joanna nickte schnell, eilte weiter den Gang entlang, an dessen Ende sie bereits die imposante Gestalt des Stationsarztes Dr. Aylett entdeckte, der vor einer Tür stehen geblieben war. Sie verabscheute es, zu spät zu kommen.
    „Sorry“, stieß sie atemlos hervor. Ihr fiel wieder mal auf, wie langweilig er doch wirkte, mit seiner milchigen Haut und dem schwammigen, faltenlosen Gesicht, das im Laufe seines vierzigjährigen Lebens nicht markanter, sondern eher noch konturloser geworden war.
    „Sie haben gestern einen Jungen aus dem Hospital in Charleville hergebracht“, sagte er ohne Einleitung. „ Seit einer Woche hat er kein Wort gesprochen.“
    Joanna O’Reilly stieg sein After Shave in die Nase und nahm ihr beinahe den Atem. Dabei hätte sie sich nach einem Jahr seitdem sie in der Brisbaner Klinik als Kunsttherapeutin vier Tage die Woche arbeitete, schon daran gewöhnen müssen. Obwohl eine Menge Mitbewerber den Job wollten, hatte man sie genommen. Ihr Einfühlungsvermögen, ihre Geduld und ihre Intuition hatten nicht nur die Personalchefin sondern auch eben Dr. Aylett beeindruckt. Sie kam gut mit Menschen klar, auch mit denen, die ihr und ihrer Arbeit eher skeptisch gegenüber standen. Und Bemerkungen von Neidern, die behaupteten, sie habe den Aborigine-Bonus, ignorierte sie einfach.
    Dr. Aylett drückte ihr eine dünne Mappe in die Hand.
    „Ein Truckfahrer hat ihn gefunden . Stand auf einmal mitten auf der Straße. Er meidet jeden Kontakt, hat autistische Züge , spricht nichts. Wir wissen nichts, noch nicht mal seinen Namen. Finden Sie raus, was passiert ist! Bringen Sie ihn zum Sprechen!“
    Sie blickte ihm nach, wie er mit wehendem weißen Kittel den Flur hinunter ging . Joanna seufzte und sah auf die Unterlagen in ihrer Hand. Sie stand am Ende eines endlos langen, leeren Korridors. Dann blickte sie auf die weiße geschlossen e Tür vor sich. Rasch überflog sie das Polizeiprotokoll. „Sie kommen mich holen“, hatte der Junge dem Truckfahrer gegenüber gesagt, und: „Sie haben sie vergraben.“ Welches Schicksal wartete da hinter der weißen Tür? Sie schluckte und stieß sie auf.

    Auf einem der beiden Betten hockte ein Junge . Sie schätzte ihn auf neun oder zehn. Seinen Kopf hatte er zwischen die Schultern gezogen. Der hellblaue Jogginganzug stammte aus dem Krankenhaus. Sie hatte keine Ahnung, wo sie beginnen sollte. Der Junge schien sie überhaupt nicht zu bemerken.
    „Hi“, sagte sie, „ich heiße Joanna.“ Sie setzte sich auf das leere Bett neben ihm und wartete ab. Der Junge blickte mit braunen großen Augen durch sie hindurch, Augen aus denen das Leben geflohen war. Er erwiderte nichts. Sie betrachtete ihn. Seine Haut war sehr hell, im Gesicht hatte er Sommersprossen und ein paar Schürfstellen. Seine dunklen Wimpern waren für einen Jungen eher ungewöhnlich lang, die hohen Wangenknochen ließen auf slawische Vorfahren schließen. Es war still bis auf das Tropfen des Wasserhahns im Bad.
    Nach einiger Zeit stand sie auf und packte aus ihrer Mappe einen großen Zeichenblock und Acrylfarben aus, die sie auf den schmalen, langen Tisch an der Wand legte.
    „Ich hab’ dir was mitgebracht.“
    Sie unternahm noch nicht einmal den Versuch, mit ihm in den Therapieraum zu gehen, denn sie war sicher, dass er nicht freiwillig mit ihr das Zimmer verlassen würde. Nicht jetzt, nicht beim ersten Mal. Kaum merklich, aber ihr war es nicht entgangen, hatte er eben die Augen bewegt.
    Sie setzte sich an den Tisch und wartete. Würde er sie, eine Fremde, in seine Welt eindringen lassen? Er saß weiter mit angezogenen Beinen auf dem Bett, den Blick auf die Wand vor ihm gerichtet. Sein rechtes Ohr stand etwas ab, fiel ihr jetzt auf und nun sah sie auch die feinen verkrusteten Schrammen an seinen Händen und Armen. Was hast du erlebt?, dachte sie. Doch er sah sie noch nicht einmal an. Immer noch nur ihr Atmen und der tropfende Wasserhahn und das kaum vernehmbare Ticken ihrer Armbanduhr.

    Und plötzlich g eht alles ganz schnell:
    Die Tür wird aufgestoßen und Schwester Patricia-Mae kommt herein. Der Junge starrt die Schwester mit schreckgeweiteten Augen an, springt im selben Moment auf, wirft sich wie ein in die Enge getriebenes Tier zum Schrank, bekommt die obere Kante zu fassen und
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