Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hoellenengel

Hoellenengel

Titel: Hoellenengel
Autoren: Thráinn Bertelsson
Vom Netzwerk:
selbst kaum«, fuhr Víkingur
fort. »Toleranz als Lebenseinstellung ist die eine Sache.
Toleranz als politische Richtung ist etwas
anderes.«
    »Und die holländische Toleranz ist ein merkwürdiges
Phänomen«, sagte van Turenhout, als er verstand, worauf
sich Víkingur bezog. »Beim Einkaufen in einem
Geschäft möchte man keine Moralpredigt des
Verkäufers. Eine Nation, die vom Handel lebt, weiß, dass
sich Toleranz auszahlt. Dreißig Jahre lang hat die
holländische Toleranz gegenüber Rauschgift anderen
Nationen als Vorbild dienen sollen.«
    »Und was, meinst du, hat es gebracht?«, fragte
Víkingur. »Darauf gibt es im Grunde keine
allgemeingültige Antwort«, sagte van Turenhout.
»Willst du nicht noch ein bisschen von der
Ziege?«
    »Nein, danke. Es schmeckt alles phantastisch, aber ich mag
den Fisch am liebsten.«
    Van Turenhout schüttete den Rest des Ziegengerichts auf seinen
Teller und kratzte die Sauce aus der Schüssel.
    »Ich bin nur ein Schreibtischbulle«, sagte er,
»aber mich widert die Durchseuchung der Gesellschaft an, die
der Toleranz folgt. Es ist übrigens ein weitverbreitetes
Missverständnis, dass Rauschgift bei uns legal sei. Weder
Haschisch noch Marihuana sind hier legal. Persönlich sehe ich
Haschisch und Marihuana auch nicht als >weichen< Stoff. Ich
bin vom Kiffen losgekommen, bevor alle meine Gehirnzellen
verschmort waren. Ich hatte Glück. Denn schon vor vielen
Jahren begannen meine Bekannten in den Leichenschauhäusern des
Landes aufzutauchen. Ich will diese Verseuchten aus meinem Land
loswerden, die Gangs loswerden, die Haie, die Kleinkriminellen und
die vielen jungen Leute, die aus ganz Europa hierherkommen, weil
man hier so gemütlich vor die Hunde gehen kann. Wenn es
Toleranz ist, möglichst viele verschiedene Methoden
anzubieten, wie man sein Leben zerstören kann, dann nehme ich
zurück, dass ich an die Toleranz glaube.«
    »Ein Rauchverbot für öffentliche Orte dient nicht
dazu, Raucher am Rauchen zu hindern«, sagte
Víkingur.
    »Es ist dazu da, die Nichtraucher vor dem Passivrauchen zu
schützen. Passiver Drogenkonsum ist viel gefährlicher als
passives Rauchen. Jeder Drogenabhängige zieht Eltern, Kinder,
Partner, Freunde oder nahestehende Angehörige mit sich in den
Kummer und die Dunkelheit.
    Jedes Jahr sterben zehntausende junge Menschen in Europa an den
Folgen von Drogenkonsum. Was glaubst du, wie groß die Menge
von Trauernden ist, die diese Jugendlichen
hinterlassen?«
    »Dieser Junge, den ihr sucht, ist er nicht dein
Stiefsohn?«, fragte van Turenhout. »Ich versuche, mich
nach ihm zu erkundigen.«
    »Es ist nicht einmal sicher, ob er hier ist«,
entgegnete Víkingur. »Wir wussten beide vor der
Anreise, dass er nicht die Leiche in der Reisetasche ist. Aber wenn
die Verzweiflung einen bestimmten Grad erreicht
...«
    »Der Kaffee hier ist so schlecht, wie das Essen gut
ist«, bemerkte van Turenhout. »Aber schlechter Kaffee
ist immer noch besser als gar keiner.«
    »Nicht für mich«, sagte
Víkingur.
    »Wie wäre es mit einem Schluck Cognac?«
    »Nein, danke, auch nicht«, sagte
Víkingur.
    »Kräutertee?«, fragte van Turenhout.
»Abgekochtes Wasser?«
    Víkingur lächelte. »Ich bin kein Asket. Aber in
der letzten Zeit hat mir eine Tasse Kaffee nach dem Abendessen
gereicht, um schlaflos zu sein, und Cognac möchte ich nicht,
weil ich mich noch mit meiner Frau unterhalten
will.«
    »Und Frauen lehnen Alkohol ab«, sagte van Turenhout.
»Besonders, wenn ihre Männer eine Fahne
haben.«
    »Ja und nein«, erwiderte Víkingur. »Die
Menschen, die nicht trinken, haben für ihre Ablehnung von
Alkohol einen triftigen Grund: Wenn man mal betrachtet, dass der
gesellschaftliche Schaden, den Alkohol verursacht, in den meisten
Ländern ein Vielfaches der Zerstörung beträgt, die
durch Drogen entsteht.«
    »Du bist kein Calvinist«, stellte van Turenhout
fest.
    »Du bist Moslem.« »Wohl kaum«, entgegnete
Víkingur. »Aber ich bewundere den Propheten, dass er
dieses Verderben schon im achten Jahrhundert erkannt hat. Er hat
sich getraut, Maßnahmen zu ergreifen in einer Gesellschaft,
die vom Alkohol durchtränkt war. Als die arabische Welt
ausgenüchtert wurde, blühten Kultur und Bildung auf,
während Europa besoffen am Boden lag.«
    »Interessant«, sagte van Turenhout. »Aber was
geschah dann? Sie sind immer noch abstinent. Wir saufen.
    Trotzdem geht es uns besser als ihnen.«
    »Von unserer Warte aus betrachtet ja«, sagte
Víkingur.
    »Wir haben einiges verloren, das sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher