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Höhenrausch (German Edition)

Höhenrausch (German Edition)

Titel: Höhenrausch (German Edition)
Autoren: Ildikó von Kürthy
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Nebel des Grauens entkamen.
     
    In der Theaterbar bestellten wir in kurzem Abstand drei Runden Sekt. «Schaumwein weitet die Blutgefäße und die Bronchialkapillaren», verkündete Lustmolch, der sich von seinem Asthmaanfall beachtlich schnell erholte.
    Ich betrachtete ihn jetzt etwas wohlwollender. Er konnte ja eigentlich nichts dafür, dass er schwul und offensichtlich mit einem bedauernswerten Bekleidungsgeschmack ausgestattet war. Außerdem hatte mir seine labile Gesundheit eine weitere Stunde Theater im Nebel erspart.
    Figürlich gesehen sah Lustmolch aus wie ein aus der Form geratener Türsteher. In seinem Gesicht – erstaunlich schmal für die bedrohliche Breite seines Oberkörpers – waren die runden blauen Kinderaugen eine angenehme Überraschung. Körpermittig spannte sich eine beachtliche Plautze.
    «Ich habe im letzten Jahr etwas zugelegt», murmelte er, als er meinen Blick bemerkte, und schaute bedauernd an sich hinunter. Ach, das fand ich nun wieder liebenswert. Weil es mich an mich erinnerte.
    Wenn mich einer genau anschaut, rechne ich auch immer als Erstes damit, dass eine Beschwerde kommt oder ein dezenter Hinweis auf eine optische Entgleisung. Mir wird dann ganz ungemütlich zumute, und ich gebe lieber unaufgefordert zu, dass ich schlecht geschlafen oder zu lange gefeiert habe, der Friseur im Urlaub oder der Vertrag im Fitnessstudio ausgelaufen ist. Das mache ich reflexartig – um mich dann zu ärgern, dass ich mein Gegenüber bereitwillig auf Macken aufmerksam mache, die derjenige von sich aus womöglich gar nicht entdecken würde.
    Fehlt nur noch, dass ich dem Nächsten, der mir in den Ausschnitt schaut, sofort entschuldigend die Diagnose meines Hautarztes mitteile. «Frau Schumann», hatte der Herr gemeint, als er meinen Körper nach Sonnenschäden absuchte, «für dieses Dekolleté sind Sie eindeutig zu jung!» Da ich fünfunddreißig bin und das ja nun wirklich nicht mehr jung zu nennen ist, kann man sich vorstellen, wie alt mein Ausschnitt aussieht.
    Das liegt daran, dass ich mir vor jedem Urlaub vornehme, einen hohen Sonnenschutzfaktor zu benutzen. Lieber langsam braun werden als schnell verbrennen, sage ich mir jedes Mal. Aber es nützt nichts. Bereits am zweiten Tag liege ich dampfend und rot glühend in der Mittagssonne, eingecremt mit «Coconut-Tropical-Oil für die stark vorgebräunte Haut».
    Ich weiß auch nicht, aber bei einigen Themenbereichen des Lebens braucht man mir mit vernunftbezogenen Argumenten nicht zu kommen. Was Sonnenbäder, Kleiderkauf, Beziehungen und den Verzehr von Kinderschokolade angeht, ist mein Unterbewusstsein programmiert auf «möglichst viel, möglichst schnell!».
    Ich bin nicht der Typ, der noch dreimal um den Block geht, bevor er eine Bluse kauft. Und wie oft habe ich versucht, ein Stück Schokolade langsam auf der Zunge zergehen zu lassen oder eine homöopathische Dosis Chips zu genießen? Selten. Eher gar nicht. Andere Leute haben Appetit. Ich habe Hunger! Ich kann mich einfach nicht entspannen in Anwesenheit einer halb vollen Packung mit was drin, das ich mag.
    Ich war nie gut im Langsamangehen oder Erst-mal-sacken-Lassen. Warum langsam, wenn’s auch schnell geht? Ich wehre mich auch nicht dagegen, mich Hals über Kopf zu verlieben. Ich wäge kein Für und Wider ab. Ich bin nicht vorsichtig. Ich will nicht vernünftig sein. Warum noch eine Nacht darüber schlafen, wenn du diese Nacht bereits mit ihm verbringen könntest? Warum erst mal in dich gehen? Warum nicht gleich mit ihm nach Hause?
    Mein Freund Andreas, den ich noch nie gesehen habe, hat mir vor ein paar Stunden dazu Folgendes gemailt:
     

Von: Andreas Szabo
Betreff: Re: Bräunen oder verbrennen?
Datum: 3. Oktober 14   :   14   :   11 MESZ
An: [email protected]
    Liebe Linda,
    du willst also nicht vorsichtig sein. Und kommst dir dabei wahrscheinlich auch noch total hip und mädchenhaft vor. Das nervt. Vor allem, weil du kein Mädchen mehr bist und weil ich anderthalb Jahre jünger bin als du – und mir schon vorkomme wie der gute alte Onkel, der dir zahnlose Ratschläge für den weiteren Lebensweg gibt.
    Aus Fehlern zu lernen heißt nicht, konventionell zu sein. Und nicht jeder, der vorher über das nachdenkt, was er tut, ist automatisch ein Spießer. Mit Vernunft werden auch Weltkriege verhindert. Das vorweg, falls du gerade ausholst, mich als früh vergreisten Emotionsminimalisten zu beschimpfen.
     
    «Charakter entsteht durch kurzfristigen Triebverzicht zugunsten langfristiger
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