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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland
Autoren: Feridun Zaimoglu
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– was in aller Welt wollte sie?
    Und dann sagte sie: Edita, erinnerst du dich? Genau. Früher hatten alle in der Klasse sie ›die Edita mit der Eisschicht auf
     dem Haarknoten‹ genannt, die Edita war im Winter besonders zugeknöpft gewesen, und als er sie einmal zu einer Schülerparty
     einlud, sagte sie: Bei diesen Minustemperaturen kann mich wirklich niemand trösten. Die Edita bastelte gern Kindermasken aus
     Wellpappe und Maschendraht oder Zupfpuppen aus Wollresten, sie schnitzte Dame-Steine aus Haselnußstecken oder bog Draht zu
     Biegepüppchen. (War der höfliche Applaus für den Kubaner ausgeblieben? – er wußte es nicht.) Er winkte seiner Tochter und
     dem braunäugigen Deutschen zu, er nahm sich vor, ihn bei nächster Gelegenheit darüber aufzuklären, daß seine Freundin aufgeklärt
     war.
    Bald saßen Edita und er in einer Studentenkneipe, sie tranken das Übliche, sie sprachen das Übliche, und da fiel ihm ein,
     daß er sich von der Verlassenen nicht verabschiedet hatte. Der Salzrand an seinem Margarita-Glaskelch ließ ihn erschauern,
     weil … Wieso? fragte Edita. Und er sagte: Viele meiner Freunde sind nach der Wende damit beschäftigt, die Umstellungen, den
     Umbau und ›die neuen Dinge aus dem Westen‹ für gewöhnlich, für wenigstens nicht sehr berauschend zu finden. Das Neue ist aber
     überwältigend. Und er erzählte ihr: Auf dem Rücksitz eines Taxis fühle ich mich wohl, ich lebe in der modernen Zeit. Nicht
     alles war schlecht damals, nicht alles ist gut heute. Die Taxifahrer verdienen gut, und auch wenn ich mein eigenes Auto habe,
     ich liebe es, in einem Taxi durch die Gegend zu fahren. Wie findest du Hosenpressen in den Hotelzimmern? sagte Edita. Diese
     Frage brachte ihn aus der Fassung, worauf lief dieses Gespräch nur hinaus?
    Edita sagte, sie könne nur nachts aus dem Haus gehen, es war keine Marotte von ihr, sie hatte sich vor etwa zwei Jahren wegen
     ihrer Rückenschmerzen einer Spritzenbehandlung unterzogen, und ein Nervenkanal hatte sich entzündet. Man stach ihr dabei auch
     die Phobie vor der Tageshelle ein (Sie ist eine ideale Märchenfigur – sie muß sich nicht sorgen, daß sie hungert, denn das
     Erbe ihres Vaters – Gott hab ihn selig – enthebt sie fast aller Sorgen. Ihre Mutter lebt in der zweiten Ehe und hat den Kontakt
     zu ihr vor langer Zeit abgebrochen), man bezähmte sie mit Spritzen. Ich mache mich gleich unbeliebt, sagte sie plötzlich,
     und doch folgte auf diese Ankündigung kein verruchtes Wort, sie hatte es sich wohl anders überlegt. Und sie erzählte ihm:
     Ich habe einen grünen Daumen, also begreife ich nicht, wieso die Orchidee bei mir in der Wohnung nicht blüht. Ein wasserleichenlilafarbener
     Stengel ist herausgewachsen und gleich vertrocknet, an derselben Stelle sproß ein kahler Trieb, die Orchidee sieht einfach
     schlecht aus im Topf, ich will sie verschenken, dochsogar meine beste Freundin hat kein Interesse. Die Edita mit der lausigen Luxuspflanze, dachte der Komponist, die Edita ist
     also kein Biegepüppchen, wie schade, daß sie tagsüber in ihrer Wohnung eingesperrt ist, wie gut, daß ihr deshalb viele unnötige
     Begegnungen erspart bleiben.
     
    Sie wurde vor der Zeit nüchtern und verließ heimlich die Kneipe, und kaum war sie an der frischen Luft, verfiel sie in Laufschritt,
     sie empfand jenes Hochgefühl, das sich bei leicht verzweifelten Jungfrauen einstellt, immer an den Frühlingsnachmittagen zwischen
     halb vier und halb sechs. Auf keinen Fall würde sie sich dumm anstellen, und bald saß sie auf dem Rücksitz eines Taxis und
     dachte: Alles, was in meiner Kraft steht, will ich tun, um … nicht mehr vorsichtig zu sein. Nur bei den Zwergen will ich aufpassen,
     daß ich keine Wurzel und keinen Halm zertrete. Neuerdings versuchten die Halbstarken unter den Närrchen bei den Buschfräulein
     Eindruck zu schinden, indem sie vorführten, wie leicht es für sie war, Halme zu biegen.
    Und tatsächlich stand noch zu dieser Stunde am Erdbuckel, dem Lieblingsplatz der melancholischen Rotmützchen, ein Moosfräulein,
     es war aus der Grube und dem Mauseloch herausgekrochen und zupfte ratlos an dem Kinderhemd, das es trug. Die Frau bückte sich,
     hielt ihr die offene Hand hin, ihren Daumen spreizte sie ab, und das Moosweiblein hüpfte auf das Trittbrett und von dort auf
     ihre Hand. Es hatte nichts dagegen, ins Haus hineingetragen zu werden, es hatte auch keine Scheu vor den Katzen, die auf ihren
     Vorderpfoten lagen und wie
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