Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
sitzen sah, neben mir ein großer
     Koffer, ein kleiner Koffer, eine Plastiktüte, wurde sie ernst, und dann ging sie neben meinem großen Koffer in die Knie, sie
     stützte sich mit beiden Armen auf die Armlehne und schaute mich schweigend an, und ich versprach ihr, sehr bald nach Prag
     zu reisen. Wegen ihr.
     
    Als wir uns wieder wiederfanden, bei meinem zweiten Pragbesuch, hatte sie, hatte Aneschka, hatte die Wunderschöne eine tschechische
     Zeitung in ihrer Hosentasche, die sie entfaltete, um mir ein unvorteilhaftes Foto von mir auf der Regionalseite zu zeigen:
     Ich lehne nicht an einem Ampelmast, aber an einer Kaimauer, ich habe wegen der Kälte ein Fuchskneifgesicht. Es ging in dem kurzen Artikel um Touristen, die voller Bewunderung auf diese Stadt schauen, sie trotzten auch
     der Eiseskälte und dem Eisregen, und die Prager sollten sich an diesen Touristen ein Beispiel nehmen.
    Nun gut, sagte ich, na ja. Mein Vater heißt Antonin, sagte sie, er ist ein Komponist, von etwas kommt etwas, und eine gute
     Freundin von ihm heißt Vlasta, eine feine Dame, die gezwungen ist, in einem Waldhaus zu leben, weil ihr sehr sehr sehr blöder
     Mann sie sitzengelassen hat. Irgendwann wirst du sie kennenlernen. Was hältst du von mir? Viel, sehr viel, sagte ich, und
     nach dem ersten Kuß kam der zweite, es waren mehr als fünf oder sechs Küsse, und ich, der ehemalige kleine Gauner, der es
     gerade noch geschafft hatte, nicht beim Pelzhändler am Bügel zu hängen, umarmte sie, und das komische Gefühl verging. Es verging
     einfach.
    Eine schöne Unterwerfung war das, ich unterwarf mich, ich kämpfte nicht um einen besseren Preis beim Hehler, ich fuhr nicht
     in eine andere Stadt, damit der Haßrausch meiner Konkurrenten sich in etwas Besseres als Mordlust verwandelte, ich merkte,
     daß das Spinnennetz, an dem ich seit Jahren knüpfte, einfach zerriß. Und ich freute mich. Kein Schnickschnack. Kein Plastik.
     Kein Polyester. Eine große Sache. Ich überging etwas zu hastig, etwas zu auffällig ihre Fragen nach meinem Beruf, ich sagte,
     daß ich etwas machte, das besser wäre als die Teilzeitarbeit eines Zeitungsausstellers – ich sagte: Ich bin Schuhmacher, nein
     falsch, ich arbeite in einem Laden für Schuh- und Lederwarenreparatur, der Meister bietet auch die orthopädische Schuhzurichtung
     in eigener Werkstatt an, genau mit diesem Satz in Folienschrift an seinem Schaufenster wirbt er für sich, ich bin für die
     Umrißzeichnung des rechten und linken Fußes zuständig, ich bitte den Kunden in Strümpfen, die Füße auf zwei blanke Kartons
     zu stellen und die Zehen nach unten zu drücken, um mit einem schön gespitzten Bleistift um die Füße zu fahren, dann messe ich Länge und Breite mit dem Schustermaßband und die Schuhgrüße mit dem Fußmeßgerät … bald habe ich es vom Lehrling zum
     Gesellen geschafft.
    Du machst Schusterei, stellte sie fest, in ihren Augen galt ich deswegen als kein Geringerer, ich hatte zwar keinen bürgerlichen
     Beruf, aber ich bediente die Bürger, so wie ich mich früher bei ihnen bedient hatte. Ich kannte mich nicht im gesamten Stadtgebiet
     aus, und das verunsicherte mich: In anderen, mir unbekannten Vierteln Prags schlossen Männer ihre Geschäfte ab, ich aber hielt
     mich hier auf, um Geld auszugeben, das Geld wohlgemerkt, das ich mir von meinem Meister geliehen hatte. Schuster sprechen
     heute so wie Bankangestellte, mein Meister forderte mich auf, die Schulden beizeiten zu begleichen, sonst würde er Verzugs-
     und Überziehungszinsen draufschlagen. Fast jeder wies mich an, mich vor kleinen und großen Fehlern zu hüten, mein Herz steckte
     nicht in einem Chitinbeutel, und vielleicht war die einzige, die davon wußte, Aneschka.
    Sie nahm mich mit ins Theater, doch das Stück war für diesen Abend abgesetzt, weil die schwangere Schauspielerin Ängste ausstehen
     mußte, wir tranken im Theatercafé Gewürztee und kehrten zurück ins Hotelzimmer, wir waren die nächste halbe Stunde damit beschäftigt,
     die Weinflecken auf der Tagesdecke mit Gallusseife einzureiben, die Seife einziehen zu lassen und auszuwaschen. Ihr Vater,
     der Komponist, rief sie an und bestellte uns in eine Bar mit dem eigenartigen Namen Balbin Poesiekneipchen, ein rundbäuchiger
     Mann mit einem angeklebten Zylinder auf dem Kopf empfing uns freundlich, er starrte meine Jeanshose an, ungebührlich lange,
     wie mir schien, dann durfte ich durch die Lücke zwischen seinem Schulterpolster und dem Bartresen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher