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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond
Autoren: Wäis Kiani
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die man von rechts nach links schreiben musste, möglichst bald zu beherrschen. Meine Eltern besorgten mir eine Persischlehrerin, die zweimal die Woche in das Haus meiner Großmutter kam, um mit mir Lektionen aus dem Erstklässler-Buch durchzunehmen. Es war mühsam und sehr langweilig, und die Lehrerin war mir nicht gewachsen. Wir quälten uns endlos viele Stunden mit den gemeinen Schriftzeichen, nur um am Ende lesen zu können, dass Dara seinem Vater ein Stück Brot gegeben hat.
    Vom restlichen Unterricht bekam ich so gut wie gar nichts mit. Ich rutschte von meiner mühsam erkämpften Vier im Rechnen innerhalb von wenigen Wochen auf eine stabile Sechs.
    Als Herr Lies einmal die Klassenarbeiten zurückgab, sagte er mit meinem Blatt in der Hand: »Mal hier ein Punkt, mal da ein Punkt, ergibt insgesamt eine Sechs.«
    Ich war schockiert. Eine Vier in Rechnen war auf einer niedersächsischen Grundschule schon außergewöhnlich, denn wir mussten eigentlich nur mit bunten Klötzen spielen, und Mengenlehre nicht zu checken war irgendwie okay, denn meine Eltern checkten es natürlich auch nicht. Aber hier gab es gar keine Mengenlehre, hier blies ein schärferer Wind. Und zwar in allen Fächern. Nur in Deutsch war ich die Einzige, die genau wusste, worüber unser Deutschlehrer sprach, und schrieb eine Eins nach der anderen.
    Was mich total verwirrte, war die Anordnung der Woche. Ich ging von Samstag bis Donnerstag zur Schule, und Freitag hatten wir frei. Ich hatte lange Zeit große Mühe, mich daran zu gewöhnen, dass am Wochenende die Woche losging. Außerdem war es lustig, dass freitags die Muezzins morgens und abends mit Alla oh Akbar zum Gebet riefen. Vielleicht haben die auch sonst immer gerufen, und ich hörte es nur freitags, weil da die Stadt nicht so laut war. Wenn man das penetrante Alla-oh-Akbar -Gejaule in der Abendsonne über die ganze Stadt zu hören bekam, merkte man erst, wie viel Moscheen und Minarette es gab.

    Wir waren mittlerweile in eine eigene Villa gezogen, sehr weit im Norden der Stadt, so weit und so neu, dass die Straßen um das neugebaute Haus herum noch nicht asphaltiert waren, sondern nur aus Lehm und Schlamm bestanden. Der Volvo meines Vaters war nicht mehr grün, sondern elefantenfarben, weil er immer durch die vielen tiefen Schlammpfützen fahren musste. Die Wohnung war sehr groß, und überall standen die Umzugskisten und originalverpackten Möbelteile herum, die meine Mutter sich weigerte auszupacken, weil sie die neue Wohnung nicht mochte. Nur mein Zimmer war einigermaßen mit einem Teil meiner neuen weißen Möbeln eingerichtet, die ich mir vor unserer Abreise ausgesucht hatte. Ich fand die neue Wohnung super, allein schon, weil ich weg war von Maman und den vielen ermüdenden Regeln und Lügen und endlich meine Ruhe hatte. Das Haus hatte einen Garten, und in dem Garten war ein großer Pool, ich freute mich auf den Sommer mit dem Pool.
    Meine Eltern und ich lebten inzwischen aneinander vorbei, morgens holte mich einer von den gelben Bussen ab, ich verbrachte den Vormittag in der Schule, und gegen zwei brachte mich der Bus wieder nach Hause, wo ich die Tür mit meinem Schlüssel aufschloss, mir allein mein Mittagessen warm machte und dann den Nachmittag mit Comics und Fernsehen verbrachte, bis meine Eltern gegen Abend eintrudelten. Ich war wohl damals das einzige Schlüsselkind Teherans, aber das war keinem von uns bewusst. Meine Tante war völlig schockiert, als sie davon erfuhr, dass meine Eltern keine Zeit für mich hatten, weil sie mit der Suche nach passenden Praxisräumlichkeiten, mit dem Zoll, wo noch ein Container mit Möbeln festhing, und anderen Genehmigungen und Beglaubigungen beschäftigt waren, dass das arme Kind mittags mutterseelenallein essen musste. Alleine sein ist für Perser das Traurigste, was einem Menschen zustoßen kann, Alleinsein hatte bei Persern einen ähnlich schlechten Beigeschmack wie der Tod. Tante Mahin schrie hysterisch, dass sie ab jetzt an jedem Bissen ersticken wollte, nie wieder etwas essen könnte und sich für mich opfern würde, wenn ich noch einmal alleine essen müsste. Sie bestand mit lautem Geschrei und Androhung von Selbstgeißelung bei ihrem Leben darauf, ich solle nach der Schule mit dem Schulbus direkt zu ihr und meiner stinkenden Cousine gefahren werden. Man würde niemanden alleine essen lassen, und ihre neunjährige Nichte sei ihr mehr wert als ihr Augenlicht, lieber wäre sie blind, als das mitanzusehen. Als ich merkte, dass meine Eltern
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