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Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Titel: Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Autoren: Alexa von Heyden
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hatte wohl einem anderen Freund Bescheid gesagt und in der Zeitung von heute stehe ein Bericht über einen Typen, der in Berlin-Mitte von einem Hochhaus gesprungen war. Auf dem Foto sah man die Schuhe des Toten und Magnus meinte, das wären Thorstens Stiefel. Ein paar Stunden später bestätigten die Eltern, dass ihr Sohn tot war. Seitdem schlief Magnus nicht mehr auf mir, sondern in meinen Armen ein. Er sagte, ich solle ihn einfach nur festhalten.
    Vor ein paar Wochen waren wir noch mit Thorsten auf einer Party gewesen, wo er ein paar Worte mit mir gewechselt hatte. »Du bist also die neue Freundin …«, sagte er und es klang, als ob er mich auf die Probe stellen wollte.
    Ich antwortete »Hallo, ich bin Helena«, reichte ihm meine Hand und drückte extra fest zu, damit er einen guten Eindruck von mir hatte. Ich wollte, dass er mich mochte. Er sah gut aus, fand ich. Thorsten drehte sich um und bestellte ein Bier, gab mir die Flasche, knallte seine dagegen und ging.
    Auf der Beerdigung stand ich neben Magnus und hielt seine Hand. Ich konnte mich nicht bewegen und ihn nicht trösten. Er wankte zu seinen Freunden, die Jungs lagen sich in den Armen. Ein großes, unglückliches Menschenbündel. Alle weinten, außer mir. Ich fand das als neue Freundin irgendwie unhöflich und versuchte, ein paar Tränen aus meinen Augen zu pressen, aber es kam nichts. Ich stand auf dem Friedhof zwischen all den Gräbern herum und war unfähig, etwas zu sagen. Aber mir wurde eins klar: Im Gegensatz zu mir hat diese Familie ein Grab, an das sie gehen kann. Mein Vater hat kein Grab. Deshalb habe ich nie um ihn getrauert, so wie Magnus an diesem Tag um seinen Freund und sein verschenktes Leben trauerte.
    Das Schlimme war, dass Thorsten auch noch aufgebahrt wurde. Als Magnus die Leiche von seinem Freund sah, hatte ich Sorge, dass sein Kreislauf zusammenbricht. Es war ein fürchterlicher Anblick.
    »Das ist doch nicht Thorsten, der sieht aus wie ein Hase«, schniefte Magnus. Und wirklich: Der hübsche Junge war nicht wiederzuerkennen, wobei schwer zu sagen war, ob es an der Wucht des Aufpralls auf einen vor der Tür des Hochhauses geparkten dunkelblauen Golf lag oder einfach daran, dass er tot war. So oft sieht man als normaler Mensch ja keine Leichen, schon gar nicht von Leuten, die aus dem zwanzigsten Stock gesprungen sind.
    Der Pfarrer erzählte in der Trauerrede von Thorstens Einlieferung in die psychiatrische Klinik ein paar Tage vor seinem Tod. Seine Eltern hatten darauf bestanden, weil er ihnen gegenüber Selbstmordabsichten geäußert hatte. Er wurde kurze Zeit später wieder aus dem Krankenhaus entlassen, »weil er auf den Arzt so unheimlich vernünftig wirkte«.
    Magnus und seine Kumpel heulten Rotz und Wasser und fragten immer wieder »Warum?«. Eine berechtigte Frage, auf die es viele mögliche Antworten gibt: Krankheit, keine Perspektive, Mobbing, Liebeskummer, Schulden oder Depressionen. Ein paar dieser Punkte trafen mehr oder weniger wohl auch auf Thorsten zu. Aber wie und wann genau kommt man zu der Entscheidung, sterben zu wollen und seine Familie zu täuschen, also so zu tun, als sei plötzlich wieder alles in Ordnung? Auch mich hat diese Frage gar nicht mehr losgelassen.
    Das Thema »Selbstmord« wurde von da an mein Hobby, wobei man meiner Meinung nach ja »Suizid« und nicht »Selbstmord« sagen sollte, weil Mord ein Verbrechen ist und ein Selbstmörder ist kein Verbrecher, sondern eher ein armer Tropf. »Freitod« klingt – finde ich – richtig beknackt, so als sei es eine Heldentat, aus einem Hochhaus zu springen. Auch der Suizid meines Vaters war keine Heldentat. Er ließ eine junge Frau und uns Kinder im Stich. Es wäre geradezu absurd, wenn ich von »Freitod« sprechen würde. Thorsten war 27 Jahre alt. Mein Vater 38.
    Magnus machte sich bittere Vorwürfe und konnte nicht verstehen, dass er nicht gemerkt hatte, wie schlecht es seinem Freund ging – wie auch? Die letzten Wochen hatte er mit mir im Bett verbracht und war nicht an sein Handy gegangen, weil wir lieber allein sein wollten. Kurz nach der Beerdigung bekam Magnus so hohes Fieber, dass ich ihm nachts Wadenwickel machen musste. Er kroch bei seinen Eltern unter und ließ sich von Mutti mit Hühnersuppe aufpäppeln. Ich blieb allein in seiner Wohnung und las jedes Buch zum Thema »Selbstmord«, das mir in die Finger kam, angefangen von Wenn es dunkel wird – Zum Verständnis des Selbstmordes von der selbst manisch-depressiven Psychiaterin Kay Redfield Jamison
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