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Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Titel: Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Autoren: Alexa von Heyden
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bis hin zu Veronika beschließt zu sterben von Paulo Coelho. Ich lud sämtliche Statistiken der Weltgesundheitsorganisation, Broschüren und Merkblätter runter, die man im Internet finden konnte und war geschockt: 350 Millionen Menschen weltweit leiden unter Depressionen, alle vierzig Sekunden nimmt sich jemand das Leben. Pro Jahr sterben mehr Leute durch Suizid als an den Folgen von Verkehrsunfällen und durch Mord zusammen, wobei zwanzig Mal so viele Versuche unternommen werden. Ich wusste nicht, dass es einen »Bilanzsuizid« gibt, dass sich wesentlich mehr Männer als Frauen umbringen – obwohl sich mehr Frauen zu Depressionen bekennen – oder dass in Japan die Leute früher in Scharen in einen Vulkan namens Mihara sprangen, bevor jemand auf die Idee kam, den Krater abzusperren. Die Nazis haben Psychiatrie-Patienten vergast.
    Ich versuchte, den Unterschied zwischen Freuds »Thanatos« – dem Todestrieb – und »Eros« – dem Lebenstrieb – zu verstehen, und las über die Schicksale von berühmten Selbstmördern, von Kurt Cobain bis Hannelore Kohl. Es gibt so viele Menschen, die berühmt, reich und beliebt gewesen sind und sich trotzdem umgebracht haben. Nicht nur mein manisch-depressiver Vater. Aber früher konnte man ja nichts googeln und in der Zeitung liest man über Selbstmord nur etwas, wenn derjenige, der sich umgebracht hat, prominent war. Wegen dem »Werther-Effekt« vermeiden die Medien es, über Menschen, die sich vor den Zug werfen, zu berichten, da gibt es so etwas wie ein Stillschweigeabkommen.
    Man unterscheidet zwischen »harten« (zum Beispiel Erhängen und Erschießen) und »weichen« Methoden (zum Beispiel eine Überdosis Schlaftabletten). Das Aufschneiden der Pulsadern wird angeblich von geistig hochstehenden Menschen bevorzugt, welche die Existenz im Allgemeinen und das eigene Dasein im Besonderen als sinnlos empfinden. Leute, die ihr Geld oder ihren Besitz verloren haben, greifen zur Pistole; in Amerika ist wegen des lockeren Waffengesetzes das Erschießen sowieso eine beliebte Methode. In Großstädten springen die Leute von Hochhäusern, im Zusammenhang mit politischer Gesinnung oder Ehre verbrennen sich die Menschen. Andere, die kein großes Aufheben um ihre Person wünschen, schlucken Tabletten, während Enttäuschte das Wasser bevorzugen. In Wien gibt es einen Friedhof für Selbstmörder. Er heißt »Der Friedhof der Verdammten«. Früher hat sich die Kirche geweigert, Selbstmörder auf dem Gemeindefriedhof zu begraben. Man hat ihre Leichen mit Zangen angefasst und sie auf Wegkreuzungen beigesetzt, damit ihre Seelen nicht zurück in die Stadt finden konnten.
    An dieser Stelle merkte ich, wie mir das Lesen wehtat, denn auch ich habe mich immer dafür geschämt, dass mein Vater sich das Leben genommen hat. Irgendwo stand, dass jeder Selbstmörder im Schnitt sechs bis acht Familienmitglieder und bis zu zwanzig Freunde hinterlässt. Ich hätte mich also all die Jahre gar nicht genieren müssen. Ich bin nicht die Einzige.
    All diese Fakten haben mich umgehauen. Das müssen die Leute doch wissen, dachte ich und beschloss, meine Abschlussarbeit an der Uni über das Thema »Selbstmord« zu schreiben. Aber dafür fehlte mir noch ein Puzzleteil: Ich wusste, dass ich mich nicht mit Depressionen und Suizid auseinandersetzen konnte, wenn ich mich nicht auch mit dem Tod meines Vaters auseinandersetze. Nicht, dass ich ihn in der Arbeit erwähnen wollte, aber es hätte sich sonst einfach falsch angefühlt. Also buchte ich einen Flug nach Hause und bereitete meine Mutter am Telefon schonend darauf vor, dass ich vorhatte, in dem Karton mit alten Klamotten, Kassetten, Dias und Unterlagen meines Vaters zu wühlen. Magnus, der in der Zwischenzeit wieder genesen war und bei sich zu Hause schlief, war nicht begeistert, dass ich abreiste, und fühlte sich alleingelassen. Aber er spürte, dass es wichtig für mich war, und ließ mich gehen.
    »Mein Mädchen, da bist du ja endlich, ich stehe schon so lange hier …«, sagt meine Mutter am Flughafen und drückt mir noch einen Kuss auf die Wange. Wir umarmen uns so fest, als wollten wir eine Orange zwischen uns auspressen. Ich halte den Atem an, weil ich sie durch die Bewegung meiner Brust von mir wegdrücken würde. Meine Mutter streicht mir mit ihrem Handrücken über die Wange. Sie nimmt mein Gepäck, das viel zu schwer für sie ist. Früher hat sie immer die Taschen für mich getragen. Sie ächzt. Der Rücken tut ihr weh. Ich will nicht wahrhaben, dass
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