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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern
Autoren: Friedrich Ani
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Wer kann das wissen?
    Hans, mein Herz. Ich verrat dir was: Wenn du noch am Leben wärst, wär Bert Gregorian trotzdem tot. Er wollt nicht gehen, er hatte sich vorgenommen, mein Schicksal in seine Hände zu nehmen, wie konnte er sich so etwas anmaßen? Du hast das nie getan. Nie gewollt. Mein Anwalt sagt, unsere Strategie läuft auf ein Verbrechen aus Leidenschaft hinaus. Ich bin einverstanden. Ich hab Bert Gregorian leidenschaftlich erdrosselt. Aber den Trinker? Den Scheiternhaufen? Wer hat dieses Wort benutzt? Der Mann am Kreuz. Der arme Mann am Kreuz.«
    Und Clarissa Weberknecht lehnte sich mit ausgebreiteten Armen an die Zellentür und blickte zum vergitterten Fenster, vor dem ein rostiger Sonntag verging. »Dieser Mann nannte sich einen Scheiternhaufen. Wieso? Ich habe es nie erfahren. Was wir alles nie erfahren ein Leben lang. Wie ahnungslos wir bleiben und wie scheu der unbegreiflichen Vorsehung gegenüber. Manchmal sind wir neugierig wie Langnasenbüschelbarsche und bestaunen die fremden Taucher, die in unsere Welt eindringen, mit dicken Brillen und Anzügen, in denen sie Fremde bleiben. Manchmal durchqueren wir einen Tag wie Großaugenbarsche. Schlängeln uns durch. Staunen uns satt. Der arme Mann am Kreuz. Er hätt nie zu uns kommen dürfen. Eine falsche Strömung hat ihn geleitet. Wie so viele. Wie dich, mein Hans. Wie den Trinker im Hof.
    Ich hab Hunger. Ja, jetzt hätt ich eigentlich Hunger.«
     
    Sie saßen an dem langen dunklen Holztisch und kauten trockenes Brot, jeder hatte einen Teller vor sich mit nichts darauf als zwei Scheiben Schwarzbrot. Daran knabberten sie und brachten kein Wort hervor. Es war Sonntag, dreißigster September, gegen halb zwei am Nachmittag. Nach den ersten Untersuchungen des Pathologen war Bertold Gregorian tatsächlich erdrosselt worden. Am Hals der Leiche wies Dr. Dornkamm Spuren von Baumwolle nach, das verfärbte, gedunsene Gesicht deutete ebenso auf Erdrosseln hin wie die Blutungen in den Augenlidern. Die Tatwaffe, das Handtuch, von dem Clarissa Weberknecht gesprochen hatte, war noch nicht gefunden worden. Im roten Mazda Coupé entdeckten die Spurensucher Haare des Ermordeten. Auf dessen Foto in den Sonntagszeitungen hin hatte sich bisher niemand gemeldet.
    Esther Barbarov brach das lange Schweigen. »Nach einer Nacht in der Zelle sind schon viele Täter zusammengebrochen«, sagte sie, nur um etwas zu sagen.
    »Sie ist nicht zusammengebrochen«, sagte Fischer.
    »Sie hat gestanden«, sagte Micha Schell. »Das nenn ich zusammenbrechen. Und Arthur Fallnik wird auch noch gestehen, daß er das Mädchen acht Monate lang in Gefangenschaft gehalten hat.«
    Wieder setzte ein Schweigen ein.
    »Wie konnten wir nur so blind sein?« sagte Liz Sinkel.
    Weningstedt zeigte mit der Spitze seines Bleistifts auf seine junge Kollegin. »Wir hatten Glück, und das gestehen wir uns zu, basta.«
    »Wir gehts dem Mädchen?«, fragte Gesa Mehling.
    »Sie ist bei ihren Eltern«, sagte Fischer. »Ich werde sie morgen besuchen.«
    Schell zerbröselte das Brot auf seinem Teller. »Ich glaub ihr kein Wort.«
    In die darauffolgende Stille hinein ertönte die Melodie von Bad Bad Leroy Brown. Fischer nahm sein Handy aus der Jackentasche. Mit geschlossenen Augen hörte er dem Anrufer zu, dann legte er das Telefon auf den Tisch.
    »Clarissa Weberknecht hat sich mit einem Handtuch in ihrer Zelle erhängt. Vorher hat sie den Wunsch geäußert, zwei Semmeln mit Leberkäs und einer bestimmten Sorte süßen Senf essen zu dürfen. Die Semmeln hat sie bekommen, allerdings mit einer anderen Sorte Senf. Kein Abschiedsbrief. Wir werden nichts mehr erfahren. Wir werden beweisen können, daß sie sowohl Bertold Gregorian als auch Josef Nest ermordet hat, aber die Beweise sind rein forensischer Natur.«
    »Das genügt«, sagte Schell.
    »Ja, das genügt.« Fischer faltete die Hände auf dem Tisch. »Wir sprengen die Türen von Häusern, an denen die Fenster fehlen. Seltsam, daß die fehlenden Fenster niemandem vorher aufgefallen sind, weder denen, die sich achtsam nennen, noch uns mit unseren um dreihundertsechzig Grad schwenkbaren Superaugen und unseren sonstigen raffinierten Überwachungstechniken.«
    »Moment mal …«, sagte Liz.
    Aber er wollte nicht weiter darüber sprechen. Er dachte an Clarissa Weberknecht.
    Er stellte sich vor, wie sie, im schwarzen Hosenanzug, ihre Semmeln aß, allein in der Zelle und, da war er sich sicher, im Stehen. Er stellte sich vor, wie sie andächtig und sehr bestimmt und hungrig,
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