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Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Titel: Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Autoren: Joanne Harris
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und ähnlich wie Gott lässt mich dieses Dorf nicht so schnell los.
    Draußen höre ich Geschrei. Es kommt vom Fluss. Was geschieht da draußen? Ich rapple mich mühsam hoch, indem ich mich seitlich an der Tür festhalte. Aber meine Beine funktionieren nicht, in meinem Kopf dreht sich alles, meine Augen brennen. Und dann – Schritte im Flur, Stimmen, die etwas auf Arabisch rufen, die Geräusche des Walfischs, der an die Oberfläche kommt.
    Das Licht ist immer noch zu grell für mich. Ich sehe nur Gewänder und Füße, Sandalen, Schlappen, Mokassins. Es sind die Füße meiner Feinde. Sie werden mich in den Staub treten.
    Eine Hand packt meinen ausgestreckten rechten Arm.
    »Alhamdulillah«, sagt eine Stimme.
    Auf der Liste der Leute, die ich jetzt lieber nicht sehen würde, steht an zweiter Stelle – nach Père Henri – der alte Mohammed Mahjoubi. Er zieht mich aus dem Maul des Walfischs, und obwohl mir das Licht immer noch in den Augen weh tut, kann ich ihn ganz deutlich sehen: weißer Bart, weißes Gewand, ein Gesicht wie eine Heilsbotschaft aus Falten.
    »Vielen Dank, ich schaffe das schon«, murmle ich.
    Und dann erlösche ich wie eine Kerze.

Samstag, 28. August, 11:50 Uhr
    Wir waren auf dem Plankenweg, am anderen Ende der schmalen Passage, die den Fluss mit dem Boulevard verbindet. Dieser Weg ist ziemlich uneben und an manchen Stellen nur einen Meter breit, aber kurz vor dem Gym wird er breiter und verwandelt sich in eine Art Terrasse. Solche Terrassen sind typisch für die ehemaligen Gerbereien, sie balancieren über dem Fluss wie Akrobaten auf hölzernen Stelzen. Heutzutage werden sie aber kaum noch benutzt, und eigentlich sind sie alle abrissreif.
    Roux stand am Geländer, Karim keine drei Meter von ihm entfernt. Mit der einen Hand hielt Karim das Mädchen fest, in der anderen hatte er einen Kanister. Er hatte sich und Du’a mit Benzin übergossen. Du’a hatte ihr Kopftuch verloren, ihre Haare und ihr Gesicht waren nass. Ein ätzender Benzingeruch ging von den beiden aus, der die ganze Luft erfüllte.
    Roux warf mir einen warnenden Blick zu. »Bleib weg. Er hat ein Feuerzeug.«
    Es war ein Bic, ein billiges Plastikfeuerzeug, wie man es in Frankreich an jedem Kiosk kaufen kann. Unkompliziert, zuverlässig, zum Wegwerfen, wie ein Menschenleben. Karim ließ den Kanister fallen und hielt das Feuerzeug dicht an Du’as Gesicht.
    »Keinen Schritt näher!«, rief er. »Ich fürchte mich nicht vor dem Tod.«
    Inès redete in ihrem hektischen Arabisch auf ihn ein.
    Doch Karim schüttelte nur grinsend den Kopf. Selbst jetzt war in seinen Farben nicht die geringste Spur von Angst zu entdecken. Er wandte sich den Leuten zu, die vom Landesteg und von der Straße aus alles beobachteten, und ich spürte wieder seine enorme Strahlkraft, die Faszination seiner Schönheit. Selbst jetzt noch glaubt er, dass der Sieg ihm gehört. Er kann sich nicht vorstellen, in einem Machtkampf mit Inès zu unterliegen.
    Mit einer Hand hielt er Du’a immer noch fest, während er Inès zu sich heranwinkte. Die Sonne brannte schonungslos auf ihr Gesicht, das nach dreißig Jahren niqab extrem blass war. Ihre grünen Augen funkelten gefährlich.
    Als ich die beiden so nah beieinander sah, konnte ich deutlich sehen, wie sehr Mutter und Sohn sich ähnelten. Der eine wie ein Spiegelbild des anderen. Er hat ihren Mund, so sanft geschwungen, ihre arroganten Wangenknochen, die stolze Körperhaltung. Aber bei Karim entdeckt man eine Schwäche, die bei seiner Mutter fehlt. Er hat etwas Instabiles, Nachgiebiges. Wie matschiges Obst. Es zeigt sich in seinen Farben. Unter der Haut ist, kaum wahrnehmbar, etwas Weichliches.
    »Seht ihr, was sie ist? Eine verlogene Hure«, rief er, an die ständig anwachsende Menschenmenge gewandt. »Es ist alles ihre Schuld. Schaut euch doch nur ihr Gesicht an. Dann wisst ihr, was sie mir angetan hat.«
    Auf Französisch befahl ihm Inès: »Lass Du’a gehen.«
    Karim lachte höhnisch. »Sie stecken alle unter einer Decke, müsst ihr wissen«, sagte er. »Diese Huren halten zusammen. Sie erzählen alle die gleichen Lügen.« Er zog Du’a so grob an den Haaren, dass ihr Kopf nach hinten schnappte. »Schaut sie euch an! Schaut euch diese Augen an und sagt mir, ob ihr glaubt, sie weiß nicht, was sie tut!«
    Ein Stück den Plankenweg entlang sah ich Paul-Marie in seinem Rollstuhl, neben ihm Louis Acheron. Sie schienen das Spektakel zu genießen – als Einzige unter den Zuschauern. Roux stand immer noch drei Meter von
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