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Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Titel: Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Autoren: Joanne Harris
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Arabisch zu erklären. Ich hörte, dass sie Karims Namen nannte, mehr verstand ich nicht. Sie ging auf Saïd zu.
    Er stieß sie weg. »Verschwinde, du Hure.«
    Inès verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.
    Ich spürte, dass Roux eingreifen wollte, und legte ihm die Hand auf den Arm.
    Saïd starrte Inès fassungslos an, aber rasch verwandelte sich seine Verblüffung in Wut. Die Spuren von Inès’ Fingern waren auf seiner Wange deutlich sichtbar. Mit drohender Miene wollte er auf sie losgehen. Roux trat nun doch dazwischen und konfrontierte Saïd. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Dann schlug Saïd die Augen nieder.
    »Diese Frau ist reines Gift«, sagte er zu Roux. »Ihr habt ja keine Ahnung. Ich weiß, was sie ist. Warum sie ihr Gesicht versteckt. Mit Frömmigkeit hat das nichts zu tun, sondern mit Schande.«
    Und mit diesen Worten stürzte er sich auf Inès und riss ihr den Schleier herunter, so dass die entstellten Gesichtszüge sichtbar wurden, die ich gerade in der Chocolaterie zum ersten Mal gesehen hatte.
    Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Eine Menschenmenge verfügt über eine ganz eigene Form von Energie, ähnlich wie ein Vogelschwarm, der am Himmel kreist und eine gewisse Zeit braucht, um seine Richtung zu ändern. Inès stand reglos da und starrte Saïd nur an. Sie machte keinerlei Anstalten, ihr Gesicht zu verbergen oder den Schleier zurückzuholen. Saïd und seine Freunde mussten den Anblick des smiley mit ungebremster Wucht ertragen.
    »Schande?«, rief Inès dann. »Ist es das, was du hier siehst? Mein Sohn hat dich zum Narren gemacht. Ja, mein Sohn. Und du bist ein Narr – wenn nicht Schlimmeres. Er hat dir einen Schleier über die Augen gezogen. Er hat dich dazu gebracht, deine Tochter zu verstoßen. Was denkst du denn, warum ist sie weggelaufen? Warum wollte sie sich das Leben nehmen? Warum hat sie Hilfe bei Fremden gesucht? Sogar bei einem Priester, einem kuffar, einem Ungläubigen, und nicht bei ihrer Familie?«
    Saïd verzog das Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
    »Ich glaube, du verstehst mich sehr gut. Du hast von Schande gesprochen. Die wahre Schande ist, wenn ein Mann, der eine Frau begehrt, sie dafür verantwortlich macht. Nur ein Narr glaubt, dass Allah sich von so jämmerlichen Ausreden beeinflussen lässt. Dein Vater mag ja ein starrsinniger alter Mann sein, aber er ist zehntausendmal besser als du.«
    Und nach diesen Worten drehte Inès sich um und wandte sich an die Menschenmenge in der Gasse. Die Leute in ihrer Nähe wichen zurück, die anderen brauchten etwas länger, um zu begreifen. In Wellen breitete sich die Erkenntnis aus, bis schließlich Stille einkehrte.
    »Seht mich an!«, rief Inès. »Seht alle mein Gesicht an. Es ist das Gesicht der Grausamkeit, des Fanatismus und der Ungerechtigkeit. Es ist das Gesicht der Heuchelei, der Schuld und der Intoleranz. Hier geht es nicht um Religion, nicht um Rasse oder Hautfarbe. Ein Verbrechen hört nicht auf, ein Verbrechen zu sein, nur weil es angeblich im Namen Allahs begangen wurde. Glaubt ihr denn, ihr seid besser als Gott? Glaubt ihr, dass ihr ihn täuschen könnt, indem ihr von Gerechtigkeit redet?«
    Die Stimme der Frau in Schwarz war stark, ihr Blick hart wie Granit. Sie versuchte nicht, die Narben zu verdecken, sondern schaute den Menschen direkt in die Augen, voller Stolz. Da senkten sie alle den Blick, einer nach dem anderen. Sogar Paul-Marie Muscat war sprachlos, und sein rotes Gesicht wurde blass. Marie-Ange Lucas, die bisher alles mit ihrem Handy gefilmt hatte, ließ die Arme sinken. Auch Roux rührte sich nicht, sondern starrte sie nur an, und an seinen Augen konnte man ablesen, dass er allmählich begriff.
    Da wandte sich Inès wieder an Saïd. »Und nun bring mich bitte zu meinem Sohn«, sagte sie.

12

    Samstag, 28. August, 11:40 Uhr
    Keine Laufbänder heute. Sehr eigenartig. Normalerweise ist ihr Hämmern doch der Herzschlag im Bauch des Walfischs. Und trotzdem ist es nicht still. So wie es klingt, hat sich draußen eine Menschenmenge versammelt. Findet irgendein Markt statt? Nein, das glaube ich nicht. Versammlungen haben ihren eigenen Pulsschlag – je nachdem, ob sich die Leute auf einem Markt treffen, zu einem Sportereignis, auf dem Spielplatz, in einem Klassenzimmer.
    Ich kann keine individuellen Stimmen ausmachen, aber ich habe den Eindruck, dass es ziemlich viele Leute sind, da oben in der wirklichen Welt – mindestens hundert.
    Obwohl meine Erschöpfung immer schlimmer
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