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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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fragte ich schließlich.
    »Weil er glaubt, die Bücher seien der Grund für die Scheidung. Die Bücher seien schuld an ihrem losen Mundwerk … so hat er immer von ihrer Intelligenz gesprochen. ›Alles, was sie davon bekommt, ist ein loses Mundwerk …‹« Verstohlen sah Mutter erneut zu Vater.
    Er rutschte nur auf seinem Stuhl hin und her und blätterte eine Seite um.
    Grummelnd nahm Mutter einen Krug aus dem Kühlschrank. »Hayat, ihre Intelligenz ist der Fluch ihres Lebens. Ist eine muslimische Frau zu klug, muss sie dafür bezahlen. Und sie bezahlt nicht mit Geld, Behta , sondern durch Misshandlungen .« Mutter verstummte und wartete auf eine Reaktion von Vater. Aber er rührte sich nicht. »Weißt du, was Freud gesagt hat, Behta ? Dieser brillante Mann?«
    Von Freud wusste ich nicht recht viel mehr als das, was mir meine Mutter von Zeit zu Zeit über ihn und seine Aussprüche berichtete. »Er hat gesagt, Schweigen bringt einen um . Wenn man über die Dinge nicht redet … geht man innerlich kaputt .« Ein weiterer Seitenblick zu Vater.
    Jetzt sah er auf, aber nicht ihretwegen. Er warf den Kopf zurück und leerte seine Tasse Tee. Mutter knallte hinter ihm die Kühlschranktür zu. Vater setzte seine Tasse ab und blätterte eine weitere Seite um.
    »Ich erzähle dir das alles, weil du mein Behta bist, mein Kind … aber eines Tages wirst du ein Mann sein. Und du solltest über diese Dinge Bescheid wissen …«
    Ich sah wieder zum Fenster, hinter dem eine scharlachrote Sonne unter purpur-pinkfarbenen Wolken unterging, die wie Zuckerwattebäusche über dem Horizont hingen. Die Fliegen knallten immer noch gegen die Scheibe.
    »Sie sind ja so lästig. Wo kommen die eigentlich her?«, beschwerte sich Mutter erneut, während sie aus dem Krug einschenkte.
    Wieder Schweigen. Schließlich hörte ich Vater hinter mir: »Hier.«
    Ich drehte mich um. Er streckte mir die zusammengerollte Zeitschrift hin. »Bring sie um! Damit Schluss ist.«
    »Zwing ihn nicht dazu«, sagte Mutter seltsam flehentlich. »Mach du es, Naveed.«
    Vater rührte sich nicht, sondern hielt mir nur die Zeitschrift hin.
    Ich nahm sie und ging ans Fenster, holte aus und schlug zu. Die Scheibe zitterte. Eine Fliege fiel zu Boden. Die anderen stoben auf. Ich benötigte ein Dutzend weiterer Schläge, um sie alle zu erwischen. Als ich fertig war, sah ich auf das Küchenlinoleum, wo die toten Fliegen lagen.
    »Gut gemacht«, sagte Vater und nahm die Zeitschrift entgegen. Er stand auf, riss die Titelseite ab, zerknüllte sie und stopfte sie in seine leere Teetasse. Dann ging er hinaus.
    Mutter stellte ihr unberührtes Glas Wasser in die Spüle. »Das nächste Mal machst du nicht, was er sagt«, fauchte sie mich an. »Sondern das, was ich sage.«
    Die Ehe meiner Eltern war von Anfang an schwierig gewesen. Sie hatten sich in Lahore kennengelernt und sich verliebt. Beide hatten dort studiert, Mutter Psychologie, Vater Medizin. Sie heirateten, und nach Abschluss seines Studiums wurde meinem Vater als Jahrgangsbestem eine Stelle in einem Programm angeboten, das ihn nach Wisconsin führte, wo er zum Neurologen ausgebildet wurde. Mutter brach ihr Studium ab, begleitete ihn – immer bedauerte sie, nicht mehr ihren Abschluss gemacht zu haben – und fand sich in den ländlichen westlichen Suburbs von Milwaukee wieder, einer Landschaft, die flach wie ein Brett und monatelang unter Schnee begraben war. Ein Ort, den sie nie recht verstand. Und sie war mit einem Mann zusammen, der sie betrog, sobald sie in Amerika angekommen waren. Kurz gesagt, als ich zehn war, war sie seit Jahren unglücklich.
    Eine Woche nach der Episode mit den Fliegen wachte ich mitten in der Nacht auf und war mir nicht sicher, ob ich träumte. Mein Zimmer glühte in flackerndem orangefarbenem Licht. Von draußen ertönte das Geschrei von Menschen. Ein aufheulender Motor schien die Luft erzittern zu lassen. Ich stand auf und trat ans Fenster. Durch den Schleier wirbelnder Schneeflocken bot sich mir ein chaotischer Anblick: Ein Wagen stand in Flammen, dahinter zwei helle Scheinwerferkegel, durch die immer wieder schwarze Gestalten huschten. Ich brauchte eine Weile, bis mir klar wurde, dass es sich um ein Feuerwehrauto handelte. Die Feuerwehrleute verteilten sich um die Flammen und zogen an einem weißen Schlauch. Plötzlich gab es ein lautes Zischen, der weiße Schlauch versteifte sich zwischen den ungleichmäßig verteilten Verbindungsstücken und spie milchigen Schaum.
    Ich war mir immer noch nicht
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