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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Und noch etwas zog mich in die letzte Reihe.
    Rachel saß dort.
    Professor Edelstein war wie immer in seinem förmlich-frischen pastellfarbenen Sammelsurium erschienen, das diesmal aus einem tadellos gebügelten malvenfarbenen Hemd bestand, gekrönt und am Kragen zusammengehalten von einer roséfarbenen Fliege, dazu Hosenträger, die zum kastanienbraunen Farbton seiner frisch gewienerten Collegeschuhe passten.
    Er begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. »Guten Tag, Hayat.«
    »Guten Tag, Professor.«
    Ich schlängelte mich zwischen den Tischen zu meinem angestammten Platz in der Ecke, wo die wunderbare Rachel an einem Keks knabberte.
    »Hallo.«
    »Hallo auch.«
    »Wie war das Spiel?«
    »Gut.«
    Sie nickte. Dann lächelte sie verhalten, während sie mir in die Augen sah. Blicke wie diese – wenn ihre hellblauen Augen funkelten – hatten mich am Vorabend tatsächlich das Wagnis eingehen lassen, sie zum Spiel einzuladen. Das ganze Semester hatte ich sie schon bitten wollen, mit mir auszugehen, und als ich mich schließlich dazu durchringen konnte, sagte sie, sie müsse lernen.
    »Willst du mal?«, fragte sie. »Es sind Hafermehlkekse mit Rosinen.«
    »Klar.«
    Sie brach eine Ecke ab und reichte sie mir. »Hast du dich vorbereitet?«, fragte sie.
    »War nicht nötig.«
    »Warum nicht?«
    »Ich kannte die Suren schon, ich musste sie nicht mehr lesen … Ich kann sie auswendig.«
    »Ach?« Rachel machte große Augen.
    »Ich hab das Zeug mal auswendig gelernt«, erklärte ich. »Manche muslimische Kinder unterziehen sich dieser Tortur. Sie lernen den ganzen Koran auswendig … Damit sie ein Hafiz werden.«
    »Echt?« Sie war beeindruckt.
    Ich zuckte mit den Schultern. »An viel kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an die Suren, die wir für heute lesen sollten …«
    Edelstein begann mit seinem Vortrag. »Ich gehe davon aus, dass Sie alle Ihrer Lektüre nachgekommen sind. Wir werden uns heute nicht direkt damit beschäftigen, auch wenn es ganz offensichtlich sehr wichtig ist. Man kann sich am Koran die Zähne ausbeißen, und je mehr wir in diesem Semester schaffen, umso besser.« Er hielt inne und ordnete die vor ihm liegenden Blätter.
    Rachel bot mir den Rest ihres Kekses an. »Willst du?«, flüsterte sie.
    »Klar«, sagte ich und nahm ihn.
    »Heute möchte ich von der Arbeit erzählen, der augenblicklich einige meiner Kollegen in Deutschland nachgehen. Ich kann Ihnen keine Texte zu ihren Forschungen zur Verfügung stellen, weil alles noch sehr neu ist. Es gehört mit zum Aktuellsten in der Islamwissenschaft …« Erneut hielt Edelstein inne, suchte Blickkontakt mit den Studenten muslimischer Abstammung – es waren insgesamt drei – und fügte vorsichtig hinzu: »Und was ich Ihnen mitzuteilen habe, könnte für manche von Ihnen vielleicht ein Schock sein.«
    So begann er seinen Vortrag über die Sana’a-Handschriften.
    1972 stießen Arbeiter bei der Restaurierung der Großen Moschee in der jemenitischen Stadt Sana’a in einem Hohlraum zwischen Dach und Decke auf unzählige Pergament- und Papierfragmente. Es handelte sich dabei um eine Art Büchergrab, in dem Muslime – denen es verboten ist, den Koran zu verbrennen – beschädigte oder abgegriffene Ausgaben ihres heiligen Buches deponieren. Die Arbeiter stopften die gefundenen Manuskripte damals in Kartoffelsäcke, die anschließend weggesperrt wurden, bis etwa sieben Jahre später einer von Edelsteins engen Freunden – ein Kollege – gebeten wurde, sich die Dokumente genauer anzusehen. Was er entdeckte, war einzigartig: Die Pergamentmanuskripte datierten aus den ersten beiden islamischen Jahrhunderten, es waren Fragmente der ältesten noch existierenden Koranausgaben. Das Schockierende daran allerdings war, sagte uns Edelstein, dass die Texte von der Standard-Koranausgabe abwichen, die Muslime seit über tausend Jahren benutzten. Kurz gesagt, Edelstein behauptete, sein deutscher Kollege werde in Kürze aller Welt aufzeigen, dass die unerschütterliche muslimische Überzeugung, der Koran sei buchstäblich das unveränderte, ewige Wort Gottes, reine Fiktion sei. Den Muslimen würde nicht erspart bleiben, womit sich die Christen und Juden in den vergangenen drei Jahrhunderten hatten auseinandersetzen müssen. Wie die Bibel würde sich auch der Koran, so wie es der gesunde Menschenverstand verlangte, als ein historisches Dokument erweisen.
    Ahmad, einer der Studenten in der ersten Reihe und Muslim, unterbrach Edelsteins Vortrag und hob wütend die
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