Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz
Autoren: Christiane Tramitz
Vom Netzwerk:
erwehren, der ihr nun erschien.
     
    Sie sah ihn in der Ecke der Hafenkneipe sitzen. So, wie er dort jeden Tag gesessen hatte. Er war ein attraktiver Mann. Mit seinem markanten Gesicht, den dunklen Augen und welligen schwarzen Haaren erinnerte er Isabel an Horst Buchholz, den unbeugsamen Rebellen aus ihrem Lieblingsfilm ›Die Halbstarken‹. Meistens trug der Fremde Jeans, darüber eine schwarze Lederjacke oder einen weiten Mantel.
    Plötzlich und unerwartet war er in ihr Leben geraten.
    Eines Tages, es war Mitte Februar, und draußen tobte ein Schneesturm, hatte er die Hafenkneipe betreten, in der Isabel als Aushilfskellnerin arbeitete. Er nahm am Fenster Platz, bestellte ein Glas Bier und eine Portion Labskaus, Kartoffelbrei mit durchgedrehtem Corned Beef. Sein Blick war nach draußen auf die großen Frachter am Kai gerichtet. Er blieb etwa zwei Stunden und verließ dann grußlos das Lokal.
    Von da an kam er jeden Tag, stets zur gleichen Zeit, und immer trank er Bier und aß Labskaus mit Ei. Isabel fragte sich, woher der Mann kam, was er trieb, welchen Beruf er ausübte. Sie schätzte ihn etwas älter, als sie selbst war, so um die 28 Jahre.
    Eine geheimnisvolle Aura umgab ihn. Seine Gedanken schienen in der Ferne zu weilen, weder sah er das Kommen und Gehen der anderen Gäste, noch vernahm er deren manchmal lautstarke und rüde Worte, wenn sie einen über den Durst getrunken hatten. In seinen Augen lag eine leidenschaftliche Sehnsucht.
    Er war in diesem Raum und doch weit weg.
    Auch von Isabel nahm er kaum Notiz, nicht, wenn sie seine Bestellung aufnahm, nicht, wenn sie sein Essen servierte und nicht, wenn er bezahlte.
    Doch in ihren Gedanken nahm der Fremde immer mehr Platz ein. Sie beobachtete seine Blicke in jedem der vier großen Spiegel, die an den Wänden hingen, stets in der Hoffnung, er würde sie ansehen, zumindest dann, wenn sie ihm den Rücken kehrte.
    Doch ganz egal, was sie tat, wie sie sich kleidete, frisierte, schminkte oder bewegte: Während die Matrosen, Fischer und Hafenarbeiter sich den Kopf nach ihr verdrehten, konnte sie seine Aufmerksamkeit nicht wecken. Sein ignorierendes Verhalten quälte und verletzte Isabel, ohne dass sie sich zur Wehr setzen konnte.
    Die Vorstellung, seine stille Sehnsucht nach Ferne würde ihr diesen Mann eines Tages entreißen, beunruhigte Isabel immer mehr. Worte, die auszusprechen sie nicht wagte, Blicke, die sie nie erreichten, Berührungen, die nur in ihrer Fantasie existierten, welch quälende und begehrende Ohnmacht. Sie begann den Unbekannten zu vermissen, lange bevor er aus ihrem Leben verschwinden würde.
    Ihre Hände zitterten, wenn sie bediente, sie war konfus, vergaß, Bestellungen weiterzugeben oder abzuholen, und verrechnete sich beim Wechselgeld.
    Eines Tages stellte Isabel dem Unnahbaren sein Bier und Essen auf den Tisch und sagte: »Wussten Sie, dass Labskaus Speise für Flegel bedeutet?«
    Der Mann sah sie kurz an. »Nein«, antwortete er mit einem flüchtigen Lächeln. »Aber danke, dass Sie mir das verraten haben.«
    Nach einer Reihe diverser Missgeschicke, der Wirt hatte sie gewarnt, lange würde er das nicht mehr dulden, entglitt ihr ein schwer beladenes Tablett. Bier und Schnaps schwappten über seine Hose.
    Ausgerechnet.
    Ohne ein Wort zu sagen, stand sie vor ihm. An seiner Schulter hing ein Stück Matjesfilet. Der Wirt eilte mit einer Serviette herbei, nestelte an der Jacke herum und sammelte die Fischstückchen ein. »Entschuldigen Sie, wir kommen selbstverständlich für die Reinigung auf«, sagte er und herrschte Isabel vor allen Gästen an: »Es reicht, das war nun endgültig zu viel des Guten, mach den Dreck weg und verschwinde für heute! Sofort!«
    Isabel ging in die Knie, um die Scherben einzusammeln. Plötzlich spürte sie eine leichte Berührung. Sie sah eine Hand, wie sie neben der ihren das Glas auflas. Haar streifte ihre Wange. Es roch nach Nelken. »Das macht nichts, wirklich, es macht nichts«, sagte der Fremde. Sein Gesicht war so nah, dass ein Schaudern sie erfasste.
    So wundervoll.
     
    Als sie abends das Lokal verließ, wartete er auf der gegenüberliegenden Straßenseite: »Ich möchte Sie wiedersehen«, sagte er.
     
    Am Vormittag ihrer ersten Verabredung lag Isabel mit den jüngsten Ausgaben von Burda-Moden und Constanze im Bett und träumte sich durch die mondäne Modewelt eines Christian Dior, eines Yves Saint Laurent und eines Hubert de Givenchy. Allesamt Namen, die für eine helle, aufregende und schillernde Welt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher