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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz
Autoren: Christiane Tramitz
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standen, jenseits des grauen Hofes, auf den ihr Fenster zeigte. Dort stand vor ein paar Häuserruinen ein verbranntes Baumskelett, die Heimat eines Taubenpärchens. Um Isabel herum waren kreuz und quer verteilt: Röcke, Blusen, Hüte, Strümpfe und Unterwäsche. Sie blickte in den Spiegel. Diese Aufregung, diese Angst, ob ihm auch alles gefalle an ihr. Doch welche Kleidung mochte er? Welche Frisur? Welchen Duft? Welche Frau?
    Draußen schien die Sonne, ein schöner Frühlingstag wartete. Es war Anfang Mai.
    Isabel entschied sich für das blaue Perlonkleid mit den roten Punkten, für die roten Schuhe mit den hohen Absätzen und den blauen Popelinemantel. Um ihre schmale Taille zur Geltung zu bringen, zog sie den Gürtel enger als gewohnt. Sie kämmte ihre Haare nach hinten, steckte sie mit einer Klammer zusammen und ondulierte die herabfallenden Strähnen mit einer Brennschere. Eine Locke hing ihr über die Stirn, scheinbar nachlässig, so, als hätte Isabel sie in der Eile vergessen, nach hinten zu stecken. Sie puderte die Wangen und trug ein zartes Rosé auf die Lippen auf. Als sie sich auf den Weg zu ihrem Treffpunkt, den Landungsbrücken am Hafen, machte, hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wie dieser Tag und vor allem die Nacht enden würden.
     
    Horst drehte sich mit einem geräuschvollen Keuchen auf die andere Seite. Dabei zog er die Decke über den Kopf, sodass Isabel nur noch ein graues Haarbüschel von ihm sah. Sie beugte sich über ihn und löschte das Licht.
    Als sie am nächsten Morgen die Stadt verließen, zeigten sich am Horizont bereits die ersten Berge. Wie Spiegel glänzten ihre Spitzen im Sonnenlicht.
    »Die Berge«, sagte Lea leise. »Sie reichen bis in den Himmel, Mama, bis in den Himmel.«
    »Ja, meine Prinzessin.«
    »Oha, bis zum Himmel. Tatsächlich?«, Horst grinste durch den Rückspiegel.
    »Ja, und wenn sich die Wolken auf ihnen niederlassen, tanzen die Toten auf den Gipfeln. Aber nur dann, denn die Menschen dürfen sie nicht sehen. Sie tanzen im Schnee, weil sie keine Kälte spüren«, sagte Lea.
    »Und die Englein spielen dazu auf der Harfe, ist das so?«
    Lea schwieg.
    »Also ich finde, es ist verdammt noch mal an der Zeit, dass das Kind erfährt, dass da oben keine Engel tanzen, meinst du nicht?«, wandte Horst sich an Isabel.
    »Horst, bitte.«
    »Lea hast du gehört? Keine Engel. Und keine toten Menschen, die tanzen nämlich nicht, die sind einfach nur tot. Die liegen in einem Sarg. Wenn sie Pech haben, verfaulen sie, wenn sie Glück haben, dann wurden sie vorher zu Asche verbrannt. Tote sind tot. Gut? Mausetot. Hallo! Mausetot.« Er klopfte auf sein Lenkrad.
    »Mein Schatz, wenn wir da sind, können wir ja auf einen Berg steigen und nachsehen. Was meinst du?«, sagte Isabel.
    Doch Lea hörte nichts mehr, denn sie presste ihre Hände auf die Ohren.
     
    Am Rande des Weilers stieß man auf den großen Kraxnerhof, der trotz der harten Kriegsjahre nicht an Glanz verloren hatte. Im Sommer hingen bunte Geranien an den Fenstern, im Winter steckten Latschenzweige in den Blumenkästen. Ein Maler aus dem Tal hatte die Jungfrau Maria über dem Eingang verewigt, die Fensterläden waren mit kunstvollen Schnitzereien verziert. Im Gemüsegarten wuchs alles, was die raue Bergwitterung gerade noch zuließ. Die Stallungen waren in Anbetracht der stolzen Zahl Grauviehs größer als die der anderen Bauern.
    Urban Kraxner war der Wohlhabendste unter den Fuchsbichlern. Durch ebenso geschicktes wie hinterhältiges Lavieren hatte er einiges an Reichtum anhäufen können. Er besaß ein großes Stück Wald sowie das Quellrecht für den hinteren und oberen Teil des Weilers. Urbans Wesen wechselte zwischen gnadenloser Skrupellosigkeit, der Bereitschaft, auch die ungeradesten Wege einzuschlagen, wenn dies zu seinem Vorteil gereichte, und ausgeklügelten Schmeichelkünsten.
    Im Weiler achtete man Urban ebenso, wie man ihn fürchtete.
    Während des Ersten Weltkriegs, als er im Dienst der Kaiserjäger in den Bergwäldern der Südfront kämpfte, gingen 47 italienische Angreifer auf sein Schützenkonto. In einem Feldheft notierte er akribisch die Tode, die er herbeigeführt hatte: Datum, Ort, Anzahl der Schüsse, geschätztes Alter der Opfer und so weiter.
    Im letzten Kriegsjahr jedoch verlor er sein linkes Bein durch die Bisse italienischer Spürhunde, die ihn und zwei Kameraden dank ihrer feinen Nase in einer Höhle ausfindig gemacht hatten. Dass Urban nicht als Kriegsgefangener oder gar als Leiche endete,
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