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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern
Autoren: Jennifer Benkau
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biegen konnte. Ich blieb vor dem Fenster stehen, bis er sie wieder öffnete, dann lief ich rasch zurück zum Wagen. Er kam wenig später, schien nicht bekümmerter als zuvor, doch er atmete so viel schwerer, dass es mich all meine Beherrschung kostete, ihn nicht zu fragen, wen er angerufen hatte. Er reichte mir eine Flasche Cola und Thunfisch-Sandwichs in einer durchsichtigen Plastikbox, die von innen beschlagen war, und fuhr los.
    Wieder hielt er auf einem Parkplatz, diesmal völlig abgeschieden, eingekeilt zwischen einem Wald und einem Sägewerk, wo um diese Zeit niemand mehr war. Über uns verwischte der Himmel, aus Putzlappengrau wurde langsam, aber sicher abendliches Dunkelblau. Wir aßen die matschigen Sandwichs und liebten uns auf dem Rücksitz. Es war mehr eine Art Ritual als Leidenschaft, ein hilflos ausgestreckter Mittelfinger in Richtung der drohenden Nacht. Mich quälte die Angst, ihm körperliche Schmerzen zu bereiten, und meine Angst ließ ihn seelische Schmerzen erleiden. Wir genossen die gegenseitige Nähe dennoch, vielleicht deshalb sogar umso intensiver. Alles andere wäre Verschwendung gewesen und zu verschwenden hatten wir nichts.
    Spät am Abend fuhren wir zum Strand, wo laut Ebonys Plan B die Verwandlung stattfinden sollte. Wir verpassten bewusst den Moment, als die Sonne im Meer versank, weil keiner von uns die Romantik zu würdigen gewusst hätte. Was hier geschehen würde, hatte die Kulisse eines Sonnenunterganges nicht verdient. Auch die Sterne und der tief hängende safranfarbene Vollmond waren eine Farce. Ich hätte auf ihre Anwesenheit verzichten können, doch als wollten sie mich verhöhnen, lösten sich alle Wolken in Wohlgefallen auf, kaum dass die Sonne schlafen gegangen war. Jeder verfluchte Stern schien aus der Dunkelheit zu glotzen, um nicht zu verpassen, was hier unten vor sich ging. Das Mondlicht spiegelte sich so hell im Wasser, dass der Gedanke an Nacht unvorstellbar erschien, obwohl wir schon fast zwölf hatten. Selbst der Himmel wollte nicht schwarz werden, sondern leuchtete in der Farbe von Lapislazuli. Der Sand war voller Möwenscheiße, aber Möwen sah man keine. Richtige Vögel schienen Angst vor Harpyien zu haben, sie blieben auf Abstand.
    Wir zogen unsere Schuhe aus und Marlon krempelte seine Jeans hoch, was ich albern fand, denn in kurzer Zeit würde er sie nicht mehr brauchen. Hand in Hand näherten wir uns dem Meer, bis die vorwitzigsten Wellen unsere Knöchel umspülten. Wenn wenigstens das Wasser eklig kalt gewesen wäre. Aber nein, es umschmeichelte die Füße frisch, aber angenehm. Der Wind strich mir das Haar aus dem Gesicht und schmeckte salzig wie heruntergeschluckte Tränen.
    Â»Der perfekte Ort für ein Happy End«, sagte Marlon. Er sprach so leise, dass ich zuerst dachte, der Wind hätte ein wenig aufgefrischt und mir ins Ohr gesäuselt.
    Â»Abscheulich, nicht wahr?«
    Â»Widerlich.« Er senkte lächelnd den Kopf. »Ich habe nachgedacht. Vielleicht gehe ich das Ganze falsch an. Ich habe so viele schlimme Dinge getan, Noa. Kann es nicht sein, dass das Erinnern ein Neuanfang sein wird, den ich mir erarbeiten muss? Nicht jeder verdient es, gerettet zu werden, weißt du noch? Ist es denkbar, dass das hier eine Prüfung ist und ich mir mein Happy End verdienen muss?«
    Â»Ich will kein Happy End«, erwiderte ich. »Ich will gar kein Ende.«
    Â»Nichts endet, Noa. Eines Tages wird genau hier etwas Neues beginnen. Willst du hierher zurückkommen in der Lammas-Nacht?«
    Heute schon würde hier etwas Neues beginnen: die Zeit des Wartens. Ich nickte dennoch, schluckte, versuchte etwas zu sagen und musste erneut schlucken. »Wann?«, würgte ich an dem Kloß vorbei, der meine Kehle verstopfte. Sag, im nächsten Jahr, bat ich in Gedanken.
    Als keine Antwort kam, konnte ich das Weinen nicht mehr aufhalten. »Solange ich mich an dich erinnere, werde ich hier sein. Jedes Jahr. In jeder beschissenen Lammas-Nacht.«
    Unser Abschiedskuss versoff, weil ich Rotz und Wasser heulte. Marlons Gesicht war nass von meinen Tränen – vielleicht waren ein paar davon auch von ihm. Immer wieder sah er sich um und ich erkannte die wachsende Sorge in seinen Augenwinkeln. Ob er sich vor der Verwandlung fürchtete? Nein, ihn ängstigte etwas ganz anderes.
    Denn was würde geschehen, wenn die anderen Harpyien nicht kamen? Sie müssten doch längst hier
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