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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern
Autoren: Jennifer Benkau
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sein, oder nicht? Als ich den Gedanken gerade weiterspinnen wollte, machte ich einen feinen schwarzen Streifen im Dunkelblau des Himmels aus. Ich schloss die Lider, rieb sie, und als ich sie wieder öffnete, war der Streifen breiter geworden. Es sah so aus, als zerrisse das Firmament und gäbe den Blick frei auf das, was dahinterlag. Hinter dem Himmel, hinter den Sternen, hinter der Nacht. Schwärze. Auf rabenschwarzes Nichts.
    Erst jetzt begriff ich, was ich da sah.
    Es war ein Schwarm. Ein Schwarm von unzählbar vielen schwarzen Vögeln. Raben. Nein, Harpyien.
    Â»Oh mein Gott«, flüsterte ich, drängte mich gegen Marlon und focht einen Kampf mit jedem Atemzug aus, weil die Luft in meiner Brust bleiben wollte. »So viele. Marlon, schau nur, wie viele es sind.«
    Â»Sie tun dir nichts«, erwiderte er, aber er begriff nicht, worauf ich hinauswollte.
    Â Ich hatte keine Angst. Es waren Erleichterung und eine perverse Art von Glück, die mein Herz zerspringen ließen.
    Â»Verstehst du nicht?«, rief ich. »Sie sind hier, um dich zu holen. Sie sind alle deinetwegen gekommen. Deine Eltern, deine Familie … sie alle sind da oben. Sie haben dich nicht vergessen! Nie!« Die Worte sprudelten aus mir heraus, ich schrie gegen das Rollen und Rauschen der Wellen an. »Nichts ist vergessen, wenn man sich erinnert. Und ich werde mich an dich erinnern, hast du verstanden. Ich vergess dich nicht! Und du wirst mich auch nicht vergessen! Und dich selbst erst recht nicht. Du wirst dich erinnern!«
    Marlon senkte den Blick, betrachtete seine Hand. »Noa. Sieh mal.«
    Es dauerte einen Moment, bis auch ich es erkannte: Hauchfeines bläuliches Flackern flüsterte über seine Haut, leckte an seinen Fingern. Kaum wahrnehmbar. Magische Energie oder energetische Magie – ich hatte keine Ahnung. Ich berührte seinen Handrücken, betastete das bläuliche Züngeln und spürte nichts Ungewöhnliches.
    Eine Wolke verdunkelte den Mond. Das Flackern auf Marlons Haut leuchtete heller. Es wisperte von Stirn zu Schläfe und Kinn, seinen Nacken herab und ließ ihn erschaudern. Er sah in den Himmel, ein Kaleidoskop aus Gefühlen drehte sich in seinen Augen. Er lächelte und weinte zugleich, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam kein Laut heraus. Ich spürte, wie sein Körper heißer wurde. Die Hitze ging von seiner Brust aus und verteilte sich, bis sie seine Hände erreicht hatte. Er ließ mich los, trat einen Schritt von mir weg, tippte sich zum Gruß an die Schläfe und verbarg ein letztes Mal alle Angst, um mir Mut zu machen. Dann sank Marlon in die Knie, fiel auf die Hände, als würde sein Körper ihn nicht mehr tragen. Ich wollte ihn wenigstens berühren, um Trost zu bieten, doch das magische Flackern nahm zu und entwickelte eine Hitze, die mir die Fingerspitzen versengte. Ich roch verbrannte Haut. Mein Herz zog sich zusammen und lag mir als Stein in der Brust, jeder Schlag ein brutales Springen. Die Dunkelheit wurde drückend und unnachgiebig wie Friedhofserde über einem Sarg, als der Schwarm lautlos wie eine schwarze Wolke über uns hinwegzog. Marlon hob den Kopf und ich sah ein letztes Mal in seine Augen, in denen nichts Menschliches mehr war. Licht von unwirklicher Helligkeit jagte über seinen Körper, hüllte ihn ein und fraß ihn auf. Ich musste die Augen mit den Händen bedecken und hatte trotzdem das Gefühl, dass das Gleißen durch jede Ritze dringen und mich blenden würde. Es ließ nach und ich blinzelte, vor meinen Augen pulsierten helle Flecken. Dahinter hockte ein Rabe inmitten von Marlons Kleidung im nassen Sand.
    Wir starrten uns an. Er atmete flach und hastig. Ich überhaupt nicht.
    Aus meinem Innern quoll Hoffnung, er würde mich erkennen, mir ein Zeichen geben. Ich wusste, dass das unwahrscheinlich war – ach was, es war albern. Idiotisch! Ich rang mit dieser Hoffnung. Vergeblich. Nur ein kleines Zeichen, dass du mich erkennst, Marlon.
    Ãœber uns erhob sich ein Krächzen, ein Schreien und Lärmen, wie ich es noch nie gehört hatte. Sie riefen nach ihm, all die tausend Harpyien schrien Marlons Namen, während sie eine weite Schleife zogen. Er musste ihnen folgen, es war seine einzige Chance, doch ich hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, wenn er nur bei mir geblieben wäre.
    Â»Marlon!« Ich machte einen zaghaften Schritt in seine Richtung, streckte die
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