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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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Säuberliche Zäune oder Hecken kündeten davon, dass die Kinder in diesen Häusern längst erwachsen geworden und ausgezogen waren und dass ihre Eltern nichts mehr damit im Sinn hatten, ihre Gärten als Auslaufgebiet für irgendwelche neuen Kinder der Nachbarschaft herzugeben.
    Das Haus, das im Telefonbuch als das von Aubrey und seiner Frau aufgeführt wurde, gehörte dazu. Der Weg zum Haus war mit Steinplatten ausgelegt und wurde von Hyazinthen gesäumt, die steif wie Porzellanblumen ragten, abwechselnd rosa und blau.
     
    Fiona war über ihren Kummer nicht hinweggekommen. Sie aß nichts von den Mahlzeiten, sondern täuschte es nur vor und versteckte das Essen in ihrer Serviette. Sie erhielt zweimal am Tag einen Nahrungsergänzungstrank – jemand blieb und passte auf, während sie ihn herunterschluckte. Sie stand aus dem Bett auf und zog sich an, aber sie wollte nichts weiter tun als in ihrem Zimmer sitzen. Sie hätte sich nicht von der Stelle gerührt, wenn nicht Kristy oder eine der anderen Pflegerinnen und Grant in den Besuchszeiten mit ihr in den Fluren auf- und abgegangen wären oder sie ins Freie hinausgeführt hätten.
    Sie saß in der Frühlingssonne auf einer Bank an der Mauer und weinte leise. Sie war immer noch höflich – sie entschuldigte sich für ihre Tränen und machte nie Einwände gegen einen Vorschlag oder weigerte sich je, eine Frage zu beantworten. Aber sie weinte. Ihre Augen waren vom Weinen rot gerändert und trübe. Ihre Strickjacke – wenn es ihre war – war verkehrt zugeknöpft. Sie hatte noch nicht das Stadium erreicht, in dem sie sich nicht mehr die Haare kämmte oder die Fingernägel sauber machte, aber das konnte bald kommen.
    Kristy sagte, dass ihre Muskeln abbauten, und wenn sich ihr Zustand nicht bald besserte, dann musste sie einen Gehwagen bekommen.
    »Aber wissen Sie, sobald sie erst mal einen Gehwagen haben, werden sie davon abhängig und laufen nicht mehr viel, nur noch das Nötigste.«
    »Sie müssen stärker auf sie einwirken«, sagte sie zu Grant. »Sie müssen ihr Mut machen.«
    Aber damit hatte Grant kein Glück. Fiona schien eine Abneigung gegen ihn gefasst zu haben, obwohl sie versuchte, es zu bemänteln. Vielleicht wurde sie jedes Mal, wenn sie ihn sah, an ihre letzten Minuten mit Aubrey erinnert, als sie ihn um Hilfe gebeten hatte und er ihr nicht geholfen hatte.
    Er sah nicht viel Sinn darin, ihr jetzt zu sagen, dass sie verheiratet waren.
    Sie wollte nicht mehr in die Halle hinunter, wo die meisten der bisherigen Leute immer noch Karten spielten. Und sie wollte nicht ins Fernsehzimmer oder in den Wintergarten.
    Sie sagte, dass sie den großen Bildschirm nicht mochte, er täte ihren Augen weh. Und der Lärm der Vögel ginge ihr auf die Nerven, und warum konnte der Brunnen nicht wenigstens hin und wieder abgestellt werden?
    Soweit Grant wusste, hatte sie nie einen Blick in das Buch über Island geworfen und auch nie in eines der – überraschend wenigen – anderen Bücher, die sie von zu Hause mitgenommen hatte. Es gab einen Leseraum, in den sie sich zum Ausruhen setzte, wahrscheinlich, weil selten jemand dort war, und wenn er ein Buch aus den Regalen nahm, erlaubte sie ihm, ihr daraus vorzulesen. Er vermutete, sie tat das, weil es ihr seine Gesellschaft erträglicher machte – sie konnte dann die Augen schließen und wieder in ihren Gram versinken. Denn wenn sie ihren Gram auch nur eine Minute losließ, traf er sie umso heftiger, sobald sie wieder mit ihm zusammenstieß. Und manchmal, dachte er, schloss sie die Augen, um die wissende Verzweiflung darin zu verbergen, deren Anblick ihm nicht gut tat.
    Also las er ihr etwas vor aus einem der alten Romane über keusche Liebe und verlorene und wiedergewonnene Besitzungen, die wahrscheinlich vor Jahr und Tag aus der Bücherei einer Kleinstadt oder einer Sonntagsschule ausgemustert worden waren. Offenbar hatte es keinen Versuch gegeben, den Inhalt des Leseraums so auf den neuesten Stand zu bringen wie die meisten Dinge in dieser Einrichtung.
    Die Einbände der Bücher waren weich, fast samten, mit eingeprägten Mustern aus Blättern und Blüten, so dass sie Schmuckkästchen oder Pralinenschachteln ähnelten. Damit Frauen – er nahm an, dass es Frauen gewesen waren – sie wie einen Schatz nach Hause tragen konnten.
    * * *
    Die Heimleiterin rief ihn in ihr Büro. Sie sagte, dass Fiona nicht so gedieh, wie alle gehofft hatten.
    »Sie verliert trotz der Zusatznahrung ständig an Gewicht. Wir tun alles für sie,
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