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Hill, Susan

Hill, Susan

Titel: Hill, Susan
Autoren: Der Menschen dunkles Sehnen: Kriminalroman (German Edition)
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den ganzen Herbst über gewesen, mild, feucht, bedrückend.
    Angela Randall fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit, aber zu dieser trostlosen Uhrzeit und am Ende einer schwierigen Nachtschicht durch die dicke Nebelsuppe heimzufahren war anstrengend. Im Stadtzentrum waren bereits Menschen auf den Beinen, doch die wenigen Lichter wirkten wie ferne, flauschige kleine Inseln aus Bernstein, deren Glühen weder Licht noch Trost spendete.
    Sie fuhr langsam. Am meisten fürchtete sie sich vor Radfahrern, die plötzlich vor ihr auftauchten, aus der Dunkelheit oder dem Nebel, für gewöhnlich ohne reflektierende Streifen an der Kleidung, oftmals sogar ohne Licht. Sie war eine recht gute, aber keine selbstsichere Fahrerin. Die Angst, nicht so sehr vor dem Zusammenstoß mit einem anderen Auto, sondern davor, einen Fahrradfahrer oder Fußgänger zu überfahren, war immer gegenwärtig. Sie hatte allen Mut zusammennehmen müssen, um überhaupt fahren zu lernen. Manchmal dachte sie, es sei die mutigste Sache, die ihr je abverlangt werden würde. Sie wusste, wie viel Entsetzen und Schock und Trauer ein tödlicher Autounfall bei den Hinterbliebenen auslöste. Immer noch hörte sie das Klopfen an der Haustür, sah die Polizeihelme durch die Milchglasscheibe.
    Damals war sie fünfzehn gewesen. Jetzt war sie dreiundfünfzig. Es fiel ihr schwer, sich an ihre Mutter als lebendigen Menschen zu erinnern, gesund und glücklich, denn die Bilder wurden für immer von diesen anderen überlagert – das so sehr geliebte Gesicht, zerschlagen und zusammengeflickt, und der kleine, flache Körper unter dem Laken im kalten, blau-weißen Licht der Leichenhalle. Niemand sonst hatte Elsa Randall identifizieren können. Angela war ihre nächste Angehörige. Sie hatten eine Einheit gebildet, waren einander alles gewesen. Angelas Vater war gestorben, als sie ein Jahr alt war. Sie hatte kein Foto von ihm. Keine Erinnerung.
    Mit fünfzehn war sie plötzlich auf niederschmetternde Weise vollkommen allein gewesen, hatte aber in den folgenden vierzig Jahren gelernt, das Beste daraus zu machen. Keine Eltern, Geschwister, Tanten oder Cousinen. Die Vorstellung einer Großfamilie war ihr völlig fremd.
    Bis vor kurzem hatte sie geglaubt, sie käme nicht nur sehr gut mit dem Alleinleben zurecht, sondern wolle es auch nie mehr anders haben. Für sie war es ein natürlicher Zustand. Sie hatte wenig Freunde, mochte ihre Arbeit, hatte ein Fernstudium absolviert und gerade mit einem zweiten begonnen. Vor allem segnete sie den Tag vor zwölf Jahren, als es ihr endlich gelungen war, aus Bevham wegzuziehen und mit ihrem Ersparten, zusammen mit dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Wohnung, das kleine Haus im zwanzig Meilen entfernten Lafferton zu kaufen.
    Lafferton war genau das Richtige für sie. Der Ort war klein, aber nicht zu klein, hatte breite, begrünte Straßen, ein paar hübsche viktorianische Reihenhäuser und im Kathedralenhof schöne georgianische Häuser. Die Kathedrale selbst war prachtvoll – Angela nahm von Zeit zu Zeit am Gottesdienst teil –, und es gab gute Geschäfte, gemütliche Cafés. Ihre Mutter hätte außerdem gesagt, mit diesem komischen, steifen kleinen Lächeln, dass Lafferton »eine angenehm gehobene Einwohnerschicht« habe.
    Angela Randall fühlte sich wohl in Lafferton, angekommen, zu Hause. Sicher. Als sie sich im Frühjahr dieses Jahres verliebt hatte, war sie zuerst verwirrt gewesen, ein Neuling auf dem Gebiet dieser überwältigenden, alles verzehrenden Gefühle, war aber rasch zu der Überzeugung gelangt, dass ihr Umzug nach Lafferton Teil eines Plans war, der zu diesem Höhepunkt führte. Angela Randall liebte mit einer Versunkenheit und Hingabe, die ihr Leben übernommen hatten. Bald, das wusste sie, würde es auch das Leben des anderen übernehmen. Wenn er akzeptierte, was sie für ihn empfand, wenn sie bereit war, ihre Gefühle zu enthüllen, wenn der Augenblick stimmte.
    Bevor sie ihn kennen gelernt hatte, war ihr das Leben allmählich etwas hohl vorgekommen. Furcht vor zukünftiger Krankheit, Gebrechlichkeit, Alter war am Rande ihres Bewusstseins aufgetaucht und hatte sie angegrinst. Es hatte sie erschreckt, in ein Alter zu kommen, das ihre Mutter nie erreicht hatte. Sie hatte das Gefühl, kein Recht darauf zu haben. Aber seit diesem Tag im April, als sie ihn kennen lernte, war die Hohlheit durch eine intensive und leidenschaftliche Gewissheit, den festen Glauben an das Schicksal ersetzt worden. An Einsamkeit, Alter und Krankheit
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