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Hexer-Edition 10: Wer den Tod ruft

Hexer-Edition 10: Wer den Tod ruft

Titel: Hexer-Edition 10: Wer den Tod ruft
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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begangen hatte!
    Aber er durfte es nicht. Noch nicht.
    Mit einer entschlossenen Bewegung drehte sich Necron herum, ging zu einem niedrigen Tisch auf der anderen Seite des Raumes und kam kurz darauf zurück, einen braunen Lederbeutel in der Hand. Seine Lippen formten lautlose Worte, während er den Beutel öffnete und mit spitzen Fingern eine winzige Prise eines grauen Pulvers hervornahm, um es über den Sarg zu streuen.
    Etwas Sonderbares geschah: Als wäre der Deckel aus stahlhartem Kristall gar nicht vorhanden, glitt das Pulver hindurch, senkte sich leicht wie fallender Schnee auf das Gesicht des bewusstlosen Mannes und schien in seine Haut einzudringen wie Wasser in einen Schwamm.
    Necron trat zurück, knotete sorgfältig seinen Beutel wieder zu und wartete. Es dauerte lange – zehn, fünfzehn, schließlich zwanzig Minuten, aber dann begann sich die leblose Gestalt unter dem spiegelnden Kristall zu verändern; erst langsam, dann immer schneller und schneller. Seine Haut verlor ihre leichenhafte Blässe, wurde dunkler und nahm einen kräftigen, beinahe gesunden Farbton an und schließlich hob sich seine Brust in einem ersten, noch mühsamen Atemzug.
    Necron machte einen halben Schritt auf den Sarg zu und brach die Bewegung im letzten Moment wieder ab. Er musste sich gedulden. Er hatte so lange gewartet – was machten da wenige Minuten?
    Trotzdem wurde die Zeit für ihn zur Qual, bis der Junge endlich die Lider hob. Sein Blick war noch trüb, es war der Blick eines Menschen, der aus einem tiefen, unendlich tiefen Schlaf erwachte und sich nicht gleich in der Wirklichkeit zurechtfand. Er versuchte die Hand zu heben, aber seine Kraft reichte nicht.
    Mit einem entschlossenen Schritt trat Necron an den Kristallsarg heran und berührte den Deckel. Seine Lippen formten ein einzelnes, düster klingendes Wort und wie von Geisterhand bewegt schwang die mannslange Kristallscheibe nach oben und zur Seite.
    »Steh auf«, sagte Necron befehlend.
    Shannon gehorchte. Seine Bewegungen waren ungelenk und steif wie die eines Kindes, das noch nicht richtig gelernt hatte, seinen Körper zu beherrschen, aber bereits während er aus dem gläsernen Sarg stieg und sich nach den bereit gelegten Kleidern bückte, auf die Necron schweigend deutete, wurde aus dem abgehackten Rucken seiner Glieder mehr und mehr ein fließendes, ungemein elegantes Gleiten. Als er sich schließlich herumdrehte und seinen Herrn ansah, schien seine Gestalt Kraft zu verströmen wie eine unsichtbare, dafür aber umso deutlicher fühlbare Aura. Necron spürte einen flüchtigen Anflug von Stolz, als er die schlanke Gestalt des jungen Mannes betrachtete, die Art von Stolz, die ein Vater beim Anblick seines wohlgeratenen Sohnes empfinden mochte, oder ein Künstler beim Betrachten seines bisher besten Kunstwerkes. Shannon war sein Geschöpf, ganz allein. Er hatte ihn zu sich genommen, als er nicht einmal alt genug gewesen war, aus eigener Kraft zu stehen, und alles, was dieser junge Magier wusste, all die unglaublichen Kräfte, die tief in ihm schlummerten und die er zum allergrößten Teil noch nicht einmal selbst entdeckt hatte, jedes bisschen Wissen, stammte von ihm. In einem gewissen Sinne war Shannon viel mehr Necron als Shannon, vielleicht mehr als Necron selbst.
    Und trotzdem würde er ihn zerstören müssen, wenn alles vorbei war. Selbst in Gedanken scheute Necron vor dem Wort töten zurück, denn für ihn war Shannon immer ein Werkzeug gewesen, erst in zweiter Linie ein Mensch, wenn überhaupt. Er hatte zweimal versagt und er würde wieder versagen, wenn er nicht sehr Acht gab. Und Necron wusste, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem Shannon seine wahre Macht begriffen und sich ihrer zu bedienen gelernt hatte. Vielleicht würde er dann nicht mehr stark genug sein, seiner Herr zu werden. Aber bevor es soweit war, würde er ihn zerstören; ein Werkzeug, eine Waffe, die furchtbar in ihrer Wirkung war, und trotzdem misslungen. Er würde eine neue bauen. Einen neuen Shannon, irgendwann einmal. Er hatte Zeit.
    Trotzdem stimmte ihn der Gedanke auf sonderbare Weise traurig. Obwohl er Shannon ob seines zweifachen Verrates hasste, gab es noch einen Rest von Zuneigung in ihm, eine Sympathie, die mit den Jahren gewachsen war und sich jeder Logik entzog.
    Necron vertrieb den Gedanken und drehte sich mit einem Ruck um. Auf einen stummen Wink seiner Hand hin folgte ihm Shannon. Sie gingen zu einem niedrigen, mit Büchern und vom Alter brüchig gewordenen
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