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Hexer-Edition 03: Das Haus am Ende der Zeit

Hexer-Edition 03: Das Haus am Ende der Zeit

Titel: Hexer-Edition 03: Das Haus am Ende der Zeit
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nachdem Charles das morsche Türschloss aufgebrochen und einen Flügel des gewaltigen Portals mit der Schulter aufgedrückt hatte. Ein schmaler Streifen grauer, flackernder Helligkeit sickerte hinter ihnen in die Halle, vielleicht das erste Mal seit Jahren, dass Licht die ewige Nacht hier drinnen erhellte, und durch das dumpfe, rasche Hämmern seines eigenen Herzens glaubte Jenny das Huschen kleiner, krallenbewehrter Pfoten zu hören. Ratten, dachte sie entsetzt. Natürlich. Das Haus mochte von Menschen verlassen sein, aber die Ratten und Spinnen hatten es erobert und zu ihrem Domizil gemacht. Sie hasste Ratten.
    Aber das war nicht alles. Irgend etwas Seltsames, körperlos Drohendes nistete in dem alten Gemäuer, etwas, das sie weder hören noch sehen oder riechen, dafür aber um so deutlicher spüren konnte.
    »Lass … lass uns wieder gehen, Charles«, sagte sie stockend. »Ich … ich fürchte mich.« Sie flüsterte, als hätte sie Angst, mit dem Klang ihrer Stimme die Geister dieses Hauses aufzuwecken, aber ihre Worte füllten die hohe, in undurchdringliche Schwärze getauchte Halle trotzdem mit kichernden Echos aus. Ein rascher, unangenehmer Schauer huschte auf eisigen Spinnenfüßen über ihren Rücken.
    Charles schüttelte stumm den Kopf, berührte sie flüchtig am Arm und versuchte zu lächeln. »Unsinn«, sagte er. »Es gibt hier nichts, wovor du Angst zu haben brauchst. Das Haus steht seit fast fünfzig Jahren leer. Als Kind habe ich oft hier gespielt. Wir haben es als Versteck benutzt, aber das ist lange her.«
    Jenny schauderte. Ohne dass sie sagen konnte, warum, verstärkten Charles Worte ihre Furcht noch. Ihr Herz schlug schneller. Speichel sammelte sich hinter ihrer Zunge. Sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich übel werden würde. Ihre Handflächen wurden feucht.
    »Ich will nicht hierbleiben«, sagte sie noch einmal. »Bitte, Charles!«
    Charles seufzte. Sein Blick glitt zurück durch die Tür und heftete sich für einen Augenblick auf den nahen Waldrand, der rasch im dunkler werdenden Grau der Dämmerung versank. »Wir können nicht weiter«, sagte er nach einer Weile. Seine Stimme hörte sich gleichzeitig entschlossen wie bedauernd an. »Sie suchen garantiert die Hauptstraße ab und ich gebe dir Brief und Siegel, dass sie jedes Gasthaus im Umkreis von fünfzig Meilen kontrollieren werden.« Er lächelte. »Wir können nicht draußen im Wald übernachten, das weißt du genau. Und es ist nur für eine Nacht.« Er schüttelte den Kopf, atmete hörbar ein und sah sich suchend um. »Irgendwo hier muss es eine Kerze geben«, murmelte er. »Früher lagen Dutzende davon hier herum.«
    »Charles, ich …«
    »Bitte, Jenny«, unterbrach sie Charles. »Morgen Abend um diese Zeit sind wir Mann und Frau und keine Macht der Welt kann uns noch trennen. Aber solange wir noch nicht offiziell verheiratet sind, müssen wir vorsichtig sein.« Er trat auf sie zu, legte die Hände auf ihre Schultern und küsste sie flüchtig auf die Stirn. »Du weißt doch genau, was geschieht, wenn deine Eltern uns erwischen, Schatz«, flüsterte er.
    Jenny nickte zögernd. Natürlich wusste sie es. Dass sie es wusste, war ja gerade der Grund, aus dem sie sich entschlossen hatten, wie eine moderne Ausgabe von Romeo und Julia miteinander durchzubrennen und in Gretna Green zu heiraten. Sie war erst achtzehn und sie wusste, dass ihre Eltern alles in ihrer Macht Stehende tun würden, sie von Charles fernzuhalten. Sie hatten mehr als einmal damit gedroht, sie in ein Internat auf dem Kontinent zu schicken, wenn sie sich weiter mit Charles traf. Und ihr Vater war kein Mensch, der leere Drohungen ausstieß.
    Sicher, Charles hatte Recht, mit jedem Wort. Und trotzdem bedauerte sie ihren Entschluss fast, seit sie dieses unheimliche Haus betreten hatten.
    Charles löste sich behutsam von ihr, drehte sich herum und ging mit vorsichtigen Schritten tiefer in das Haus hinein. Jenny blieb neben der Tür stehen, achtsam darauf bedacht, den winzigen Bereich von Helligkeit hinter dem Eingang nicht zu verlassen. Charles hantierte eine Weile im Dunkeln herum, fluchte gedämpft und kam – nach Sekunden, die ihr wie Ewigkeiten erschienen – zurück. Seine Kleider waren verdreckt und staubig und auf seiner linken Wange glänzte ein dünner, blutiger Kratzer. Aber er trug eine Kerze in der Hand. Mit einem triumphierenden Grinsen ließ er sich neben Jenny in die Hocke sinken, stellte die Kerze zu Boden und kramte eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche.
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