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Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)

Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)

Titel: Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)
Autoren: Manfred Koch
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nach den Mädchen würde weiterlaufen wie geplant. Und wenn seine Hilfe nötig gewesen wäre, hätte man ihn schon längst angerufen. Er hatte wirklich keinen Grund, sich auch noch von diesem schwachsinnigen Zeitungsartikel verrückt machen zu lassen.
    Wagner nahm die Zeitung und zerriss sie sorgfältig in kleine, rechteckige Stücke. So, wie es auch seine Mutter immer mit alten Zeitungen gemacht hatte, als er ein kleines Kind gewesen war. Früher, als man Zeitungspapier noch als Klopapier benutzt hatte. Das Einzige, wozu diese Zeitung gut ist, dachte er, wirklich das Einzige. Als er das letzte Blatt vom Boden aufhob, um es zu zerreißen, fand er darunter das fehlende Stückchen seiner Kaffeetasse und legte es auf den Tisch zu den anderen traurigen Scherben.
    Dann trug Wagner den kleinen Packen Zeitungspapier auf die Toilette, warf ihn Blatt für Blatt in die Muschel, drückte die Spülung und schaute zu, wie die Papierfetzen durch den Abfluss verschwanden.
    Er blickte auf seine Armbanduhr. Schon bald elf. Fast der halbe Tag vergeudet.
    Er griff nach seinem Handy, um es einzustecken, überlegte einen Augenblick und legte das Handy wieder zurück auf den Tisch. Er hatte einen Entschluss gefasst: Für die nächsten Tage wollte er sich wirklich ausklinken. Kein Handy, keine Zeitung, kein Alltagsmist. Er hatte Wichtigeres vor.
    Wagner atmete tief durch und machte sich endlich auf den Weg zum Haus seiner Mutter.

D er Samstag war grau, der Sonntag war rot, und alle anderen Tage waren schwarz. Aber heute, was war heute? War heute rot, oder hatte sie vergessen, das Blatt vom Kalender abzureißen? Dann war heute schwarz. Aber wenn sie schon gestern darauf vergessen hatte, oder vorgestern, dann war heute rot. Schwarz oder rot, für Maria Wagner war das jetzt wichtig. Sie musste das wissen, unbedingt musste sie das wissen. Denn wenn heute rot war, dann würde ihr Sohn erst morgen kommen, und sie hätte noch einen Tag Zeit, um sich auf seinen Besuch vorzubereiten. Doch wenn heute schon schwarz war, dann könnte er jeden Moment bei ihr auftauchen und sie zur Begrüßung umarmen, und dann würde er sofort bemerken, dass sie sich noch nicht gewaschen hatte und immer noch in ihrem Nachthemd herumlief und der alten, grauen Strickweste ihres Mannes, die ihr viel zu groß war und die ihr Sohn so abscheulich fand. Und dann müsste sie wieder seine besorgten Blicke ertragen, diese Blicke eines Sohnes, der seine Mutter für nicht mehr ganz richtig im Kopf hält und denkt, sie würde ohne Hilfe im Leben nicht mehr zurecht kommen. Als wäre es nicht ihr gutes Recht, in ihrem Alter nachlässiger mit sich zu sein. Aber diese Blicke verhießen nichts Gutes, sie machten ihr Angst. Und deshalb musste sie jetzt unbedingt wissen, ob heute rot war oder schwarz.
    Vielleicht wäre es doch am besten, so zu tun, als sei heute schwarz. Sie würde sich jetzt ganz schnell waschen und frisieren und dann das dunkelblaue Kostüm und die hellblaue Bluse anziehen und 4711 auf Hals und Wangen sprühen, das gute Kölnischwasser, das ihr noch ihr Mann geschenkt hatte. So würdesie auf ihren Sohn warten. Und wenn heute doch rot war, dann würde sie eben morgen die ganze Prozedur wiederholen. Hauptsache, ihr Sohn würde nichts davon mitbekommen, dass sie nicht wusste, welcher Tag heute war, und dass ihr Gedächtnis sie immer öfter im Stich ließ. Und seine Lieblingstorte würde sie ihm backen, die Schokoladetorte mit der Nusscreme, die er sich schon als Kind immer gewünscht hatte. Oder war es die Apfeltorte gewesen? Dann eben eine Apfeltorte mit viel Zimt und Rosinen. Die Äpfel im Garten mussten ohnehin schon reif sein, genauso wie die Kirschen, also könnte sie auch noch einen Kirschkuchen machen. Im ganzen Haus würde es duften wie früher, als es jeden Sonntagnachmittag selbstgebackenen Kuchen zum Kaffee gegeben hatte, und ihr Sohn würde endlich davon überzeugt sein, dass sie immer noch alles ganz allein schaffte und keine Hilfe brauchte. Endlich würde er das begreifen und damit aufhören, ihr irgendwelche Altenpflegerinnen ins Haus zu schicken oder Prospekte von Seniorenheimen mitzubringen.
    Sie war jetzt sechsundachtzig und hatte nur noch einen einzigen Wunsch: Sie wollte in ihrem Haus sterben. Vielleicht waren ihr noch ein, zwei Jahre vergönnt, doch sie hatte keine Angst vor dem Tod. Angst hatte sie nur davor, eines Tages ihr Leben an einem Ort beenden zu müssen, der ihr fremd wäre. Abgeschoben, ausgestoßen, verbannt aus dem Haus, das für sie in
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