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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind
Autoren: Sabine Thiesler
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zu haben. Er hätte zu Pia gehen und sagen sollen: »Cara, hör zu, ich habe eine andere Frau kennengelernt. Ich will euch beide, ich liebe euch beide, und ich werde keine von euch der anderen wegen aufgeben.« Vielleicht hätte Pia sogar um ihn gekämpft, vielleicht wäre sie sogar bei ihm geblieben, um der anderen nicht das Feld zu überlassen. Es war alles möglich.
    Er hatte es völlig falsch angepackt, und Pia war gegangen.
    Aber heute begann sein neues Leben, und er freute sich darauf. Beinah schämte er sich dafür, dass er vor einigen Tagen noch daran gedacht hatte, sich umzubringen. Das Leben war großartig, und er hatte fest vor, es zu genießen.
     
    Zur gleichen Zeit hielt die Misericordia, der staatliche Gesundheitsdienst, vor der Trattoria.
    »Schön, dass Sie da sind«, meinte Teresa und führte zwei beleibte Frauen, die sich als Emilia und Raffaela vorstellten, ins Haus.
    Enzo saß im Wohnzimmer neben dem kalten Kamin und zitterte kaum merklich.
    Emilia quälte sich umständlich aus einem gesteppten dunkelblauen Anorak, der sie nicht nur optisch zwanzig Kilo schwerer machte, sondern bei den Außentemperaturen um zwölf Grad auch noch viel zu warm war, wurschtelte einen weißen Kittel aus ihrer Umhängetasche und zog ihn sich über.
    Raffaela setzte sich neben Enzo, faltete die Hände und rührte sich nicht mehr.
    »So«, flötete Emilia, klopfte mit der Faust auf den Tisch, sah Enzo auffordernd an und grinste breit, »wie geht’s uns denn?«

    »Bene.« Enzos Stimme war weich und warm.
    Teresa hatte sich am Fenster auf einen Hocker gesetzt, duckte sich, sagte keinen Ton und hoffte, nicht aus dem Raum geschickt zu werden, um nichts von der Befragung zu verpassen. Sie bemühte sich sogar, unhörbar zu atmen.
    »Das freut mich.« Emilia hüstelte. »Was haben Sie heute Morgen gemacht, Enzo?«
    »Ich bin ein Junge aus Umbrien. Ich habe die Schafe gemolken und ihre Milch getrunken. Warm und frisch. Mit Brot und Caffè.«
    »Sehr schön.« Emilia lächelte milde. »Waren Sie allein? Oder haben Sie zusammen mit Ihrer Frau Teresa gefrühstückt?«
    »Ich bin immer allein.«
    Emilia machte sich Notizen. »Was essen Sie normalerweise am liebsten?«
    »Schafskäse mit Zwiebeln und Knoblauch. Mit grünen Oliven und Schinken, scharf geräuchert. Oder ein neugeborenes Lamm. Ausgeblutet und rosa gebraten.«
    Emilia schluckte. »Haben Sie Söhne oder Töchter, Enzo?«
    »Meine Schafe sind meine Kinder«, sagte Enzo und lächelte.
    Raffaela entfaltete ihre Hände, setzte sich aufrecht und ließ die Fingerknöchel knacken. »Ich nenne Ihnen jetzt drei Worte, Enzo«, sagte sie betont langsam. »Und ich möchte, dass Sie sich diese Worte merken. Ja?«
    Enzo nickte.
    »Pasta – Cane – Letto, Enzo. Nudeln – Hund – Bett. Haben Sie mich verstanden?«
    Enzo nickte.
    »Können Sie diese drei Worte wiederholen?«

    »Pasta – Cane – Letto. Ich bin müde, ich möchte jetzt schlafen. In Umbrien geht die Sonne unter, es wird Zeit.«
    »Einen Moment noch.« Raffaela stand auf und flüsterte mit Emilia. Teresa hatte fast den Eindruck, dass Raffaela die Kompetentere der beiden war.
    Enzo gähnte herzhaft. »Willst du einen Kaffee, amore?«, fragte Teresa leise, stand auf und strich Enzo übers Haar. »Du irrst dich nämlich, es ist nicht abends, sondern morgens. Gerade halb zehn.«
    Er antwortete nicht, sondern gähnte noch tiefer und anhaltender als zuvor.
    »Wir müssen Ihnen noch ein paar Fragen stellen, Enzo«, sagte Emilia und stand auf. »Wann sind Sie geboren?«
    »In einer stürmischen Winternacht in den umbrischen Bergen. Meine Mutter war schwach, aber ich habe an dem Euter eines Esels getrunken, bis das Wetter umschlug und wir nach Hause zurückkehren konnten.«
    »Wann war das?«
    »Vor langer Zeit. Als die Schafe noch fett waren und es noch Korn gab auf den Feldern.«
    Teresa stöhnte auf und schüttelte den Kopf, aber Emilia und Raffaela achteten nicht auf sie.
    »Was für einen Beruf üben Sie aus, Enzo?«
    »Ich bin ein Junge aus Umbrien. Ich hüte die Schafe und trinke ihre Milch und ihr Blut.«
    Teresa seufzte vernehmlich.
    »Was ist drei mal vier mal zwei?«
    »Es waren Hunderte.« Enzo lachte leise. »Sie hatten alle einen Namen, und sie kamen, wenn ich sie rief.«
    »Nennen Sie mir die drei Worte, die ich Ihnen vor ein paar Minuten gesagt habe, Enzo.«

    »Pesto – pane – petto. Soße – Brot – Brust.«
    Teresa wandte sich entsetzt ab, öffnete das Fenster und fächelte sich mit der Hand Luft
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